68 2. Abschnitt. Grundlegung u. Ausbau der Sozial- u. Wirtschaftspolitik.
der Frauen und Kinder gerichtet. Dieses Ziel aber — in dem vor drei Jahrzehilten
alles einig war hat sich seit Ende der achtziger Jahre mehr und mehr verschoben.
Heute hat die Arbeiterbewegung — neben der Weiterbildung des Rechts des Arbeits
vertrags zum hauptsächlichen Ziel, die Gesetzgebung und die Mittel der Regierung
mehr und mehr in die Botmäßigkeit der Parteileitung zu bringen und das wirtschaft
liche Verhältnis des Unternehmerstandes zur Arbeiterklasse in einseitiger Weise zu
regeln. Und der Stützpunkt für Ziel und Mittel liegt in dem voll allen Parteien
und namentlich von theoretisch-wissenschaftlicher Seite festgehaltenen Grundgedanken,
immer noch finde eine unbillige Ausbeutung der Schwachen statt, wogegen die Re
gierung zum Schutz verpflichtet sei. Diese Anschauung entspricht dein heutigeil Stande
nicht mehr; die Klagen über soziale Mißstände hat die neuere Gesetzgebung so ziemlich
alle erledigt; viele sind auch unter dem Einfluß der sozialen Zeitströmung, noch mehr
durch die günstige Gestaltung der Lage des Arbeitsmarktes gehobeil wordeil. Insofern
haben die Klagell des Arbeiterstandes, damit aber auch die sozialethischen Forderungen
an objektiver Berechtigung verloren.
Das gleiche, was von dein tatsächlichen Untergrund zu sagen ist, gilt auch von
der bisherigen inneren Begründung. Vori den verschiedenen Hypothesen, worauf sich
die sozialistische Lehre aufbaut, ist eine um die andere durch die Erfahrung nnb
tiefgründigere Forschung widerlegt worden. Aber all Einfluß hat die sozialistische
Anschauung sowohl auf dem wissenschaftlichen als auf dem politischen Gebiet nicht
eingebüßt, sondern im Gegenteil immer mehr an Boden gewonneil. Am welligsten
ist durch die Widerlegung der abstrakten Unterlagen der politische Einfluß, wie
schon die Vertretung iin Reichstag zeigt, geschmälert worden.
Diese Beobachtung weist darauf hin, daß wie bei den Landwirten und dein
Mittelstalld, so auch bei der Arbeiterklasse unter den Ursachell der Ullzufriedenheit die
subjektiven, psychologischen Stimmungsmomente, die scholl voll Ansang an, wie bei
jeder sozialen Bedrängnis vorlagen, heute mehr als je überwiegen.
Es liegt in der Massensuggestion begründet, daß llichts eine stärkere Trieb
kraft zur Aufstachelung der Volksleidenschaft und der Massenbegehrlichkeit besitzt,
als die Phantasie und die utopischen Versprechungen der Erlösung der Nicht-
besitzenden.
Dell extremen Parteien ist es in wenigen Jahren gelungen, die Frage der Neu
gestaltung des Lohnverhältnisses uird der dienstlichen Beziehrmgen zwischen dein Arbeiter-
stand und den Unternehmern aus einer — am grün en Tisch zu erledigenden juristisch-
gesetzestechnischen Frage der Rechtsentlvicklung zu einer Klassen- und Machtfrage von
Millionell zu erheben. Die sozialistische Weltanschauung nnb Zeitströmung hat eine
Massenbewegungunddas Klassenbewußtsein gezeitigt. Wohl schon vorher hatte sich
eine gewisse, verschiedenen Berufsständen angehörige Anzahl von Männern, die
von den gleichen politischen Idealen getragen wurden, zu einer Partei vereinigt. Die
große Masse von Berufsgenossen aber, der Baueril und Handwerker, wurde — un
geachtet aller Bemühungen der Jnnungsfreunde um die Weckung des Korpsgeistes —
bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts — an jedem einzelnen Platze durch Miß
gunst auseinandergehalten („je näher ein Bauer dem andern wohnt, um so weniger
traut er ihm" — Thomas). Erst von da ab führte die Gemeinsamkeit der Inter
essen und der Weltanschauung in den Bevölkerullgsklassell eine Masse von Wählern
zusammen, nnb bildete der Glaube an das „Endziel", die Hoffnung auf Erlangung