Full text: Volkswirtschaftliches Lesebuch für Kaufleute

1. Begriff und Wesen der Volkswirtschaft. 
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ringen und sorgen sich die Menschen um diese. Der Erwerb, die Benutzung, die Ver 
teilung materieller Güter ist Zweck und Inhalt der privaten wie öffentlichen Tätigkeit, 
die hier sich vollzieht. — Aber die Volkswirtschaft hat nicht nur diesen Charakter, sie 
hat auch eine hohe immaterielle, ethische und kulturelle Bedeutung. Es kommt 
in Betracht, daß bei allen Völkern der Zustand ihrer Volkswirtschaft es ist, der in 
erster Reihe den Zustand der Volkswohlfahrt und den Grad des Kulturlebens bedingt. 
Zwar bestimmen die ökonomischen Zustände zunächst nur die materielle Existenz und 
Lage der Menschen, aber diese, d. h. die Köhe und Sicherheit des Einkommens, die 
Größe des Vermögens, die Art der Erwerbstätigkeit rc. haben eben für die Menschen 
die weitere Bedeutung, daß sie wesentlich und jedenfalls mit in erster Reihe den Zu 
stand auch ihres moralischen, geistigen und kulturellen Lebens bedingen. Sie üben bei 
den einzelnen stets einen entscheidenden Einfluß auf ihr Familienleben, auf die Er 
nährung , die Erziehung, die Ausbildung der Kinder, auf die Beschaffung fast aller 
höheren geistigen Genüsse, auf das körperliche und geistige Wohlbefinden, auf das 
moralische Verhalten, und nicht minder auf die Erfüllung der sittlichen Lebenszwecke. 
Sie üben auch einen wesentlichen Einfluß auf die Kraft und Macht der Staaten und 
deren Kulturleistungen; denn von der ökonomischen Lage eines Volkes, von dem größeren 
oder geringeren Reichtum, von der größeren oder geringeren Steuerkraft hängt es 
wesentlich ab, wie weit es seine Selbständigkeit und Llnabhängigkeit gegen andere Völker 
zu schützen, und was es für seine geistige und materielle Lebung, was es für die 
Pflege der idealen Güter, für die Pflege und Förderung des sittlichen und geistigen 
Lebens, was es für Bildung, Kunst und Wissenschaft zu leisten vermag. Wenn daher 
die Volkswirtschaft an sich auch nur das materielle Güterlebcn des Volkes ist, so steht 
sie doch wegen der Bedeutung, welche diese Güter im Einzelleben und im Volksleben 
haben, im allerengsten Kausalnexus mit der Wohlfahrt, der Kultur und den Kultur 
fortschritten des Volkes. Sie ist das wesentliche Fundament derselben. Ihr Zustand 
bedingt in erster Reihe den Kulturgrad des ganzen Volkslebens, und von ihr hängt 
es sehr wesentlich ab, welche Kulturaufgaben ein Volk erfüllen kann. Daher folgen 
in der Geschichte die Kulturfortschritte der Menschheit in der Regel den Fortschritten 
auf dem Gebiete der Volkswirtschaft. 
Erst dieser Zusammenhang zwischen Wirtschasts- und Kulturleben ergibt für die 
Volkswirtschaft die hohe ethische Aufgabe derselben: daß sie auch wirklich mithelfe 
„beim Bau der sittlichen Welt," die Basis für die Erfüllung der sittlichen Pflichten 
und Lebenszwecke der einzelnen und der sittlichen Aufgaben des Volkes bilde und das 
Mittel für ein sittliches Kulturleben der Volksmitglieder und für den steten Kultur 
fortschritt des ganzen Volkes werde; sie soll durch ihre Organisation jedem im Volke 
mindestens die Möglichkeit bieten, durch eigene Kraft ein solches Leben zu führen und 
an den Segnungen der Gesamtkultur teilzunehmen; sie soll die fortschreitende sittliche 
Vervollkommnung des Volkes fördern und dazu beitragen, das Volk diejenige Kultur 
stufe erreichen zu lassen, die ihm auf seinem Territorium mit seinen natürlichen und 
geistigen Kräften zu erreichen möglich und deshalb Pflicht ist. 
Der Wert einer Volkswirtschaft ist in erster Reihe darnach zu beurteilen, 
wie weit sie dieser Aufgabe entspricht, wie weit sie auch ein sittliches Gebilde ist. Die 
Volkswirtschaft ist nicht bloß eine Produktionsgemeinschaft. Es handelt sich bei ihr 
in erster Reihe nicht darum, ob möglichst viel produziert werde, sondern darum, wie 
die Menschen leben, wie weit durch die wirtschaftliche Tätigkeit die sittlichen Lebens 
zwecke erfüllt werden, wie weit also auch die für alle menschlichen Gemeinschaften auf 
zustellenden und anerkannten Postulate der Gerechtigkeit, der Humanität, der Sittlichkeit 
erfüllt sind. Die Produktion ist in ihr nicht Selbstzweck, sie ist auch nur ein Mittel 
für die sittlichen Zwecke und Ziele des Wirtschaftslebens. Für die Beurteilung des 
sittlichen Gehalts und Werts einer Volkswirtschaft kommt es daher, wenn auch die
	        
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