Full text: Sein und Sollen oder die Frage nach der wissenschaftlichen Berechtigung praktischer Nationalökonomie

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VI. 
Die Frage, ob praktische Nationalökonomie als Wissenschaft 
möglich sei, ist ein Spezialfall aus der allgemeineren Frage über das 
Verhältnis von Theorie und praktischer Anwendung. In der Ge 
schichte der Medizin hat dieselbe Frage eine Eolle gespielt. In einer 
Zeit, in der die Begründung des medizinischen Lehrgebäudes auf die 
Anatomie des menschlichen Körpers vollzogen und die Sektion der 
Leiche zum Fundament des Unterrichts erhoben war, hat eine Säule 
der medizinischen Wissenschaft mit Abscheu die Zumutung von sich 
gewiesen, eine Operation am lebenden Körper vorzunehmen. Selbst 
verständlich sollte damit nicht gesagt sein, daß diese Operation nicht 
vorgenommen werden solle, sondern nur, daß dies die Aufgabe des 
handwerksmäßig vorgebildeten Chirurgus, aber nicht des wissen 
schaftlichen Mediziners sei. Wenn nun auch heute kein Vertreter 
der Heidelberger Richtung einen Abscheu darüber äußern wird, 
daß ein wissenschaftlicher Nationalökonom die Praxis der Raterteilung 
am lebenden Wirtschaftskörper ausüben könnte, so ist die Forderung 
doch in der Tat ausgesprochen worden: der Nationalökonom, der 
sich dahin äußere, ob er in der Agrar-, Gewerbe- und Handelspolitik usw. 
eine Maßregel empfehle, habe zu bekunden, daß er dies nicht als 
Mann der Wissenschaft tue. Und daß hie und da die neue Richtung 
in der Tat zu der Behauptung geführt hat, der wissenschaftliche 
Nationalökonom könne als solcher kein Kolleg über praktische 
Nationalökonomie lesen, bildete ja den Ausgangspunkt unserer Ab 
handlung. Nun glaube ich bereits gezeigt zu haben, daß die hier be 
hauptete Kontroverse in Wirklichkeit nicht als vorhanden anerkannt 
z u werden brauche. Aber — und das ist noch wichtiger — selbst 
wenn die Kontroverse besteht, so ist die Frage, ob der Professor 
der Nationalökonomie Volkswirtschaftspolitik lesen solle, nicht eine 
krage des Seins, sondern eine Frage des Sollens. Und die Seins- 
Fanatiker tun hier das, was sie für wissenschaftlich unmöglich 
erklären; daß sie nämlich gerade in ihrer Eigenschaft als Männer der 
Wissenschaft über eine Frage des Sollens urteilen. Wenn sie in ihren 
Abgrenzungen so klar wären, wie sie es von ihren Gegnern verlangen, 
80 würden sie sagen: die Frage, welche Kollegien der Professor lesen 
s °ll, ist eine Frage des Sollens und kann wissenschaftlich nicht be 
stellt werden.
	        
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