Erster Abschnitt.
Geschichtlicher Überblick über das Verhältnis Marokkos
zu den europäischen Staaten.
§ x. Vorgeschichte.
Marokko ist seit unvordenklichen Zeiten von den Berbern be
wohnt, einem über alles freiheitsliebenden, demokratisch gesinnten
Volk. Alle Forscher stimmen darin überein, daß die Volksstämme,
die heute in Nordafrika wohnen, keine anderen sind, als die in den
ältesten Berichten als Lybier, Gätuler, Numidier usw. erwähnten 1 ,
mit andern Worten, daß die berberische Rasse sich unverändert
durch Jahrtausende auf ihrem angestammten Grund und Boden
erhalten hat. Wie es bei seiner geographischen Lage nicht anders
möglich ist, war Marokko zahlreichen Einwanderungen und Ein
brüchen fremder Völker ausgesetzt, die teils von Europa über die
Meerenge von Gibraltar kamen, teils von Osten auf dem Land
wege über Ägypten eindrangen. Aber die Kraft und Stärke der
einheimischen Rasse hat sich darin geäußert, daß sie sie alle assi
miliert 2 und aufgesogen hat, ohne selbst wesentliche Änderungen
zu erleiden, abgesehen von den Städten, in denen sich als einzige
Eindringlinge die Araber erhalten haben. Da die Berber die von
den Arabern mitg'ebrachte 3 mohammedanische Glaubenslehre an-
nahmen, bildete sich ein günstiges Verhältnis zwischen den beiden
Rassen, dessen r olg'e zahllose Vermischungen 4 waren, aus denen
die sogenannten Mauren hervorgdngen. Diese Mauren sind es in
1 Vgl. Cousin et Saurin. Le Maroc, S. 39.
2 Vgl. M. Hartmann: Der islamische Orient. Bd. II: Die arabische Frage, S. 100 u.
Diercks: Die marokkanische Frage 1906, S. 40.
:1 Die Besetzung Nordafrikas durch die Araber vollzog sich in der Zeit von 692—708.
Mas Latrie, Relations et commerce de l’Afrique septentrionale, Paris 1886, S. 4.
* Die Vermischungen beschränken sich auf das flache Land und die Städte, während sich
die nie unterworfene berberische Bevölkerung des Atlas- und Rifgebirges bis auf den
heutigen Tag rein erhalten hat.