Der Imperialismus der übrigen Weltmächte.
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Rußland.
Der russische Imperialismus geht auf gewaltsamen Land
erwerb aus; Pelzhändler und Kosaken waren die Pioniere bei Gründung
des asiatischen Kolonialreiches. Diese Jagd nach Pelztieren hat zur Grün
dung der ersten russischen Niederlassungen in Sibirien geführt. Auch
die ersten Vorstöße nach Mittelasien unter Peter dem Großen sind auf
das Verlangen nach den Reichtümern des Orients, die Eroberung des mitt
leren Sibiriens auf die Anziehungskraft der wertvollen Erzlager zu Beginn
des 18. Jahrhunderts zurückzuführen. Das Vordringen der 1781 gegründeten
Russischen Kompanie bis nach Kalifornien und auf die Sandwichinseln
hat ebenso wie das Ubergreifen von Alaska auf Oregon im Beginn des
19. Jahrhunderts zum Zusammenstöße mit dem Imperialismus der Ver
einigten Staaten von Amerika und zu dessen erstem öffentlichen Be
kenntnis in der Botschaft des Präsidenten Monroe (1823) geführt.
Zum Streben nach wachsendem Anteil an der Weltwirtschaft
wurde Rußland durch ein agrarisches und ein industrielles Motiv genötigt.
Rußland war nächst den Vereinigten Staaten die „reichste Getreide
kammer und der reichste Viehstall der Welt“ (Kj eilen, Groß
mächte 166). Dieser Reichtum der schwarzen Erde, der besonders in
Südrußland in der Getreideproduktion seinen Höhepunkt erreichte,
drängte zum Getreideexport. Er enthielt auch die wirtschaftliche Recht
fertigung für den Drang zum eisfreien Meer und seiner ganzjährigen
Exportmöglichkeit. Die natürliche Abgeschlossenheit Rußlands von den
maritimen Wegen des Welthandels hatte im Zusammenwirken mit dem
nationalen Ideal des Allrussentums vier Programme politischer und wirt
schaftlicher Expansion entstehen lassen. Das mittelländische Programm
war auf die freie Durchfahrt ins Mittelländische Meer und den Besitz
Konstantinopels gerichtet. Damit sollte Rußland der gesicherte Ausgang
zu den Marktplätzen der Welt verschafft werden. Diesem Programme
war durch die von alter türkischer Tradition und der Eifersucht der
Großmächte getragene Schließung der Meerengen seit dem Londoner Ver
trag von 1841 die Erfüllung versagt; nicht zum geringsten Teile bildete
daher gerade die Öffnung der Meerengen und der Besitz von Konstan
tinopel eines der Kriegsziele Rußlands im Weltkriege. Daß gerade dieses
mittelländische Programm unmittelbar vor Ausbruch des Weltkrieges
aktuell wurde, erklärt sich aus der Aufgabe oder doch mindestens Zu
rückstellung der übrigen drei Expansionsprogramme. Das atlantische
Programm, das die Russifizierung der Ostsee anstrebte, war durch die
Teilnahme Rußlands an der Integritätserklärung Norwegens (1907) und
an der Kollektivgarantie der an der Nord- und Ostsee gelegenen Staats
gebiete (1908) zum Stillstände gekommen; die wider den Pariser Ver
trag von 1856 erfolgte Befestigung der Aalandsinseln hatte es allerdings