Dieses Vorgehen mutete so absonderlich an, daß man zunächst
vergebens nach einer Erklärung suchte. Derselbe Herr, der den
alten Volksversicherungsgesellschaften bisher alle nur möglichen und
unmöglichen Sünden vorgerechnet hatte, hielt es auf einmal für an
gebracht, mit eben diesen Gesellschaften in enge Beziehungen zu
treten. Derselbe Herr, dem es sehr wohl bekannt war, wie wenig
beliebt diese alten Gesellschaften im Volke sind, sollte auf einmal
zu der Ansicht gekommen sein, die Frage der Volksversicherung lasse
sich mit diesen Gesellschaften am besten lösen! Mit eben diesen
Gesellschaften, gegen welche die sozialdenkokratische „Volksfürsorge"
die besten Waffen in der Hand hatte, wollte er diese „Volksfürsorge"
bekämpfen! Das war so unsaßlich, so undenkbar, daß man schon
tiefer gehen muß, um eine Erklärung dafür zu finden.
Ursprünglich hatte Herr Geheimrat Kapp sich mit der Hoffnung ge
tragen, es werde ihm gelingen, die beteiligten Kreise davon zu über
zeugen, daß die Lösung der Volksversicherungsfrag'e am besten den
öffentlichen Lebensversicherungsanstalten überlassen werde. Dann
hätten diese im Glanze der wahrhaften Volksfreundlichkeit dagestanden,
und das mußte natürlich förderlich auf das große Geschäft wirken,
das tröst aller Bemühungen nach der Ansicht sachverständiger Kreise
nicht so recht gedeihen wollte. Leider aber machte ihm der
zu diesem Zwecke von ihm geschaffene „Zentralausschuß" einen
dicken Strich durch seine Rechnung, indem er tröst der glänzenden
Dialektik des Herrn Geheimrat Kapp sich doch zu der Ansicht be
kannte, man solle alle Kräfte im bürgerlichen Lager mobil machen
und vor allem die opferwillig dargebotene Hand eines bedeutenden
Teils der privaten Lebensversicherungsgesellschaften nicht ausschlagen.
Die Gründe für diese Stellungnahme muß man unbedingt gelten
lassen. Die öffentlichen Anstalten sind nichts Einheitliches; sie glie
dern sich in eine ganze Reihe von Teilen, die wieder für sich den
verschiedensten Aufsichtsbehörden unterstellt sind. Auch sind sie —
oder waren sie zum mindesten damals noch — keineswegs überall
im Deutschen Reiche zugelassen, so daß ihr Wirkungsbereich örtlich
begrenzt war. Schon das mußte ihre Tätigkeit stark beeinträchtigen,
gcknz abgesehen davon, daß ihre Bedeutung — an der Privatversicherung
gemessen — eine sehr geringe ist. Im weiteren aber sind sie fast durchweg
im Anschluß an die Kreditinstitute des ostdeutschen Großgrundbesitzes
entstanden. Diese „agrarische" Verwandtschaft empfindet der Ver
fasser selbst durchaus nicht als etwas Kompromittierendes; wohl aber
ist nicht zu bestreiten, daß weite Kreise unseres Volkes, auf die
eine Volksversicherung am wenigsten verzichten kann, vor allem in
den Städten und im Westen des Reichs den Gründern der öffent
lichen Anstalten nur sehr geringe Sympathien entgegenbringen. Man
mag diesen Amstand bedauern, aber man mußte ihm Rechnung
tragen, wenn man praktische Erfolge erzielen wollte. Wären die
Wünsche des Herrn Geheimrat Kapp durchgedrungen, so wäre es der
^Volksfürsorge" ein leichtes gewesen, auch die nichtsozialdemokratischen
Kreise der Arbeiterschaft im großen Umfange unter der Maske der Neu-
sralität an sich heranzuziehen. Da erkannte denn Herr Kapp, daß er
Zugeständnisse machen müßte. Die öffentliche Meinung verlangte von
rhm ein Zusammengehen mit den privaten Gesellschaften, und so fügte
^r sich scheinbar diesem Verlangen. Aber er ging dabei an eine falsche
«schmiede. Mit kühler Gelassenheit schob er die uneigennützigen