V. Vertragsrecht. 139
Vertragsteils dann ‚gerichtlich für nichtig zu erklären sind, wenn ihre Erfüllung
bzw. Weitererfüllung nach Friedensschluß nachweisbar zu so wesentlich ver-
änderten Bedingungen erfolgen würde, daß sie dem deutschen Vertragsteil erheblich
Schaden bringen würde.“‘“
In bezug auf Versicherungsverträge mit englischen Ge-
sellschaften hat das Reichsgericht den deutschen Versicherten das
Rücktrittsrecht zugestanden ?).
Die tatsächliche Grundlage der maßgebenden Entscheidung bildete der folgende
Sachverhalt:
Der Ingenieur R. in Berlin und drei andere Personen waren bei der Commercial
Union in Berlin, der Zweigniederlassung einer gleichnamigen englischen Gesellschaft,
gegen Feuersgefahr versichert. Nach Kriegsausbruch erklärten die Versicherten, daß
sie von den Verträgen zurücktreten, weil infolge des Kriegs die Verhältnisse, auf deren
Fortdauer sie bei Abschluß der Verträge hätten rechnen können, sehr einschneidend
geändert worden seien; insbesondere sei durch das Verbot der englischen Regierung
vom 9. September 1914 das im Ausland befindliche Hauptvermögen der Commercial
Union zur Deckung der‘ deutschen Forderungen nicht mehr verfügbar. Dem gegenüber
berief sich die Commercial Union darauf, daß ihr in Deutschland befindliches Vermögen
zur Deckung ihrer sämtlichen Verbindlichkeiten ausreiche, zu diesem Zwecke sicher-
gestellt sei und der Verfügung des Aufsichtsamts für Privatversicherung unterliege, sie
aber außerdem noch am 1. September 1914 mit der Frankfurter Allgemeinen Ver-
sicherungs-A.-G. einen Vertrag geschlossen habe, wonach diese mit ihrem vollen Ver-
mögen für Erfüllung der Verbindlichkeiten der Commercial Union hafte. Mit der vor-
liegenden Klage verlangt die Commercial Union Feststellung, daß die Verträge mit den
vier beklagten Versicherten zu Recht bestehen.
Während das Landgericht III in Berlin der Klage stattgab, hat das Kammer-
gericht den Rücktritt der Beklagten für gerechtfertigt erklärt und demgemäß die Klage
abgewiesen. In seinen Entscheidungsgründen führt das Kammergericht aus: durch
den Krieg und seine Folgeerscheinungen sind die Grundlagen der streitigen Versicherungs-
verträge in einschneidender Weise geändert worden. Die Klägerin kann nur noch mit
ihrem in Deutschland befindlichen Vermögen für Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus
den Verträgen einstehen. Das ist aber nur ein ganz kleiner Bruchteil des ganzen Ver-
mögens der englischen Hauptgesellschaft, mit dem diese den Versicherten haftete. Zu-
nächst freilich besteht das englische Verbot jeder Zahlung an Deutsche und der Erfüllung
der mit Deutschen geschlossenen, Verträge nur für die Dauer des Krieges. / Ob aber nach
Beendigung des Krieges, dessen Dauer nicht bestimmt werden kann, das Verbot
x geändert werden wird, läßt sich nicht voraussagen. Es ist auch zu befürchten, daß die
englische Hauptgesellschaft auch ohne gesetzliches Verbot später ihr außerdeutsches
Vermögen zur Erfüllung der deutschen Verträge entziehen wird. Die Kaution, welche
sich in den Händen des Aufsichtsamts für Privatversicherte befindet, gewährleistet
den deutschen Versicherten nicht eine sofortige Zahlung ihrer Ansprüche. Nach alle-
dem ist die Grundlage des Versicherungsverhältnisses derartig erschüttert und
verändert, daß nach Treu und Glauben den Beklagten die Fortsetzung der Verträge
nicht zuzumuten ist. Daran ändert auch nichts der Vertrag mit der Frankfurter Ge-
sellschaft. Ob diese tatsächlich ausreichende Mittel zur Erfüllung der Verbindlichkeiten
der Klägerin sichergestellt hat, ist nicht klar. ‚Jedenfalls haben die Beklagten aus diesem
Vertrage keine direkten versicherungsrechtlichen Ansprüche gegen die Frankfurter
tesellschaft.
?) Rechtsprechung bis Ende 1915 bei Soergel a. a, O. Seite 10/11.