Full text: Das Ich und der Staat

194 V. Überstaatliche Bindungen des Jchs 
des Römerreiches erobert, indem es den Totenkult zur Hauptsache 
machte und frischweg behauptete: das Leben auf dieser Erde habe 
seinen beschränkten Wert nur als Vorbereitung auf das Leben im 
Jenseits, das sich ~ vorausgesetzt, daß das abgeschiedene Ich 
hienieden einen christlichen Lebenswandel geführt habe – in den 
Formen persönlichen Daseins unbegrenzt weiter spinnen werde, nur 
frei von jeglichem Gefühl der Unlust, nämlich im Zustand „,„ewiger 
Seligkeit““ — ein Begriff, wovon der tätige Mensch von heute die 
Vorstellung unendlicher Langeweile nur schwer zu trennen vermag. 
Wie unerträglich müssen die Zustände im alternden Römerreich für 
das Massenteilchen Ich schließlich geworden sein, wenn ihre bloße 
Verneinung eine so ungeheure Werbekraft hatte! 
Das siegreiche Christentum, das die Massen des Römerreiches 
gewonnen hatte, mußte die „Wiederkunft Christi““ und das „Reich 
Gottes“’, das ursprünglich als „nahe bevorstehend““ gedacht war, auf 
unbestimmte Zeit vertagen und sich in dieser staatlich organisierten 
Erdenwelt einrichten. Es ward zur Kirche, zum Staat im Staate ~ 
oder über den Staaten. 
Die Organisation zur Kirche war noch nicht einheitlich durchge- 
führt, als das Römerreich zusammenbrachz; mit ihm spaltete sich 
auch die Kirche in eine westliche und eine östliche Hälfte, in eine 
römisch-katholische und eine griechisch-katholische. 
Die römisch-katholische Kirche beherrschte das staatlich organisierte 
Leben Westeuropas, bis + auf deutschem Boden ~ abermals eine 
Spaltung erfolgte und das Christentum durchzog, wohin auch immer 
es sich in der Folge ausbreitete. 
Seitdem also hat die christliche Weltreligion drei große Lebens- 
formen: die griechisch-katholische, die römisch-katholische und die 
evangelisch-protestantische, wovon für das Deutschtum jedoch nur 
die beiden letzten in Betracht kommen. 
Die römisch-katholische Lebensform der christlichen Religion ist 
einheitlich organisiert, die protestantische freiheitlich-vielgestaltig; es 
gibt nur eine römische Kirche, aber es gibt eine Menge protestan- 
tischer Kirchen. Die römisch-katholische Lebensform knüpft eine be- 
friedigende Antwort auf die bange Frage „„Was wird aus mir nach 
meinem Tod?“ an die Bedingung, daß das Ich der Kirche in 
Glaubenssachen blind gehorche; die protestantische Lebensform macht 
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