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auch aus anderen Gründen die Unterbringung in einem Heim not-
wendig sein. Ich erinnere nur an die Ffleglinge, denen es unmöglich
ist, draußen eine Lehrstelle zu bekommen. Dieses ist besonders häufig
auf dem Lande der Fall, wo der Lehrling nicht nur in seinem Beruf
tätig sein muß, sondern auch häufig durch andere Arbeiten wie Land-
arbeiten und Hausarbeiten von seinem Meister in Anspruch ge-
nommen wird, da der Meister häufig garnicht genügend Aufträge
für seinen Spezialberuf bekommt.
Ein Krüppel, der an Lähmung der unteren Extremitäten leidet
und das Schneiderhandwert lernen will! Trotz bester Schulausbildung
und besten Willens ist es ihm nicht in allen Fällen möglich, eine Lehr-
stelle zu finden. In solchen Fällen pflegt der westfälische Landes-
hauptmann Meistern, welche derartige Krüppel als Lehrlinge auf-
nehmen, für den ihnen entstehenden Ausfall an voller Arbeitskraft
Prämien zu geben. Auf diese Weise ist es mir möglich gewesen, noch
vor längerer Zeit einen Krüppel meiner Anstalt bei einem Meister
in Paderborn unterzubringen.
Während wir nun im Vorhergesagten gesehen haben, daß die
Unterbringung in ein Krüppelheim von soviel äußeren und inneren
Umständen abhängt und daß nicht immer das Krügppelleiden allein
ausschlaggebend war, sondern daß soziale, wirtschaftliche und für-
sorgerische Erscheinungen eine große Rolle spielen, ja oft von aus-
schlaggebender Bedeutung sind, so werden wir im Folgenden sehen,
daß bei der Unterbringung von Krüppeln in Siechenabteilungen die
Schwere des Krüppelleidens selbst im Vordergrund steht.
In ein Siechenhaus gehören diejenigen Patienten, welche trotz an
ihnen vorgenommener Operationen nicht imstande sind, im freien
Wettbewerb ihren Lebensunterhalt zu verdienen, also solche, welche
dauernd der Bewahrung, Kur und Pflege in einer Anstalt bedürfen.
Es würde zu weit führen, hier ausführlich alle Krankheiten auf-
zuzählen, welche zum Siechtum führen können. Häufig spielt auch der
Lebenswille und die Lebensbejahung eines Patienten eine große
Rolle mit.
Ich erinnere mich eines Beispiels, welches ich kurz erwähnen
möchte. Gelegentlich einer Schuluntersuchung in der Haard fand ich
in einem Hause einen 27 jährigen Krüppel, der sich nur mühsam
kriechend fortbewegen konnte. Es handelte sich um einen jungen
Mann, der Lähmung beider unteren Extremitäten hatte. Er galt bei
seinen Eltern und bei dem Armenamt als siech. Aus Gutmütigkeit
oder weil es seine Eltern so wünschten, wurde er zu Hause behalten.
Ich überredete ihn, sich operieren zu lassen, und nach nicht sehr langer
Zeit war er durch Versteifung einzelner Gelenke und Anlegung einer
Schiene an dem anderen Bein so weit, daß er an einem Stock sich
fortbewegen konnte. Ich ließ ihn im Korbflechten ausbilden, und er