3. Humanitäre und staatliche Bestrebungen auf dem Gebiete der
Krüppelfürsorge.
Der vorhin geschilderten Entwicklung der konfessionellen Krüppel-
fürsorge geht seit der Jahrhundertwende parallel eine Bewegung, die
ihren Führer in Professor Dr. Biesalski, dem Leiter des Oskar-
Helenen-Heims zu Zehlendorf, gefunden hat. Biesalski ist besonders
durch die schon erwähnte Herausgabe der großen Reichssstatistik (vgl.
oben II) bekannt geworden. Dieses Werk hat aber nicht nur als erst-
malige größere statistische Zusammenfassung seine Bedeutung, sondern
darüber hinaus noch durch den Umstand, daß Biesalski im 9. Abschnitt
„Grundzüge moderner Fürsorge“ gleichham sein Programm ent-
wickelt. Für ihn ist oberster Grundsatz, daß der Krüppel ein Kranker
ist. Jeder Kranke gehört aber in erster Linie dem Arzte, und darum
muß der Arzt sowohl dem Lehrer wie dem Geistlichen in der Krüppel-
anstalt vorangesezt werden. Für ihn gilt der Satz: „Der Arzt ist
Direktor“ (S. 165) als absolutes Postulat. Der Arzt hat die Schwestern-
schaft zu leiten, er hat den Vorsitz in den stattfindenden Konferenzen,
er beaufsichtigt den Schulunterricht und die gewerbliche Ausbildung,
kurz, ihm untersteht der gesamte Anstaltsbetrieb. Die Tätigkeit des
Arztes wird nach diesem Programm keineswegs auf die orthopädisch-
ärztliche beschränkt, er erscheint vielmehr neben dem Lehrer und der
Schwester auch als Erziehungsfaktor.
Diese Grundsätze sind von Biesalski in seiner Anstalt durchge-
führt, und es sind nach diesem Vorbild eine Anzahl Häuser organisiert
worden. Das Charatteristische bei diesen Häusern besteht gewöhnlich
darin, daß der ärztliche Apparat durchaus dominierend ist. Gewöhn-
lich besteht eine ziemlich ausgedehnte, viel Personal erfordernde Ver-
waltung. Die Folge davon ist natürlich, daß durchschnittlich diese
Häuser kostspieliger arbeiten als konfessionelle Anstalten. So erwähnt
die „Innere Mission im evangelischen Deutschland“, 16. Jahrgang,
1921, S. 17 ff., daß im Jahre 1920 die staatlichen Pflegesätze im Oskar-
Helenen-Heim 15 Mk. betrugen, dagegen im Oberlinhause 10 Mk. und
im Samariterhaus Cracau nur 6 Mk. Nicht mit Unrecht wird in dem
zitierten Artikel auch hervorgehoben, daß ein offensichtlicher Mangel
dieses Systems darin besteht, daß der Arzt all jenen Krüppeln ratlos
gegenübersteht, bei denen die ärztliche Wissenschaft nichts zu erreichen
vermag. Jedenfalls hat diese starke Betonung der orthopädisch-ärzt-
lichen Tätigkeit auch dazu beigetragen, daß die Orthopädie in den
letzten Jahrzehnten –~ begünstigt natürlich namentlich durch den
Krieg ~ zu einem bedeutsamen Sonderfach der medizinischen Wissen-
schaft sich ausgewachsen hat.
Im Jahre 1909 kam dann von ärztlicher Seite der Anstoß, durch
Zusammenfassung aller Heime und Fürsorgestellen Deutschlands die
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