64 2. Abschnitt. Grundlegung u. Ausbau der Sozial- u. Wirtschaftspolitik.
handelt es sich nun weiter bei der Art der Ausführung darum, wie man ohne Ver
letzung des Grundsatzes der Gewerbefreiheit ein Korrektiv anstellen kann. Die
Formel für eine treffende, fruchtbringende Verbindung zwischen Individualismus
und staatlichem Zwang, sowie ihre Anwendung und Durchführung auf die einzelnen
Erwerbs klaffen und Bedrängnisse ist heute noch nicht gefunden und bildet die Auf
gabe der nächsten Zukunft.
Nach beiden Seiten hin ist die Kleinhandelsfrage geeignet, auch auf die soziale
Frage (weiteren Sinnes) ein Licht zu werfen.
Das Mittelstandsprogramm bildet ein Glied in dem allgemeinen (Protektions-)
System des „sozialen Schutzes der Schwachen" und kann daher auch nur als solches
voll gewürdigt werden.
Dieses System rang sich immer entschiedener in dem Zoll- und Arbeiter
schutz durch. In Konseqenz dessen wurden — unter Mitwirkung politischer
Zweckmäßigkeitsgründe — allmählich zugunsten des Kleingewerbes, auch seitens der
den Kleinbetrieb berührenden gewerbepolizeilichen und Steuergesetzgebung gewisse
Schutzmaßregeln gegenüber der kapitalistischen Konkurrenz getroffen. Die Frage,
inwieweit für die Krise, worin sich der Kleinbetrieb in Handel und Gewerbe (d. h.
das Handwerk und das Detailgeschüft), zur Zeit befindet, die Regierung Hilfe zu
schaffen vermöge, und die Durchführung der gewerblichen und steuerlichen Neuerungen
bildete in den letzten drei Jahrzehnten ein stehendes Thema für Land- und Reichstag
und beanspruchte in ihren Beratungen einen ungewöhnlich breiten Raum.
Die Volkswirtschaftslehre versagte in der näheren Präzisierung dieser Frage
vollständig.
Wie in der Agrar- und Arbeiterfrage, läßt sich auch in der Kleinhandelsfrage
der Meinungsstreit auf den Versuch, die mannigfaltigsten Bedrängnisse auf eine Formel
zu bringen, sowie ans die pessimistische Auffassung der Bedrängnisursachen zurück
führen. Die Vertreter des pessimistisch-radikalen Standpunktes erklären die Mittel
standsfrage als eine Konkurrenz- und Machtfrage, erheben die Not des Kleinhandels
zu einem unumstößlichen Dogma und erblicken die Ursache lediglich außerhalb des
Kleinhandels, in der Kapitalüberlegenheit oder — wie der konservative Flügel
— in der Illoyalität der direkten Konkurrenten. Diese Diagnose enthält aller
dings eine halbe Wahrheit, die aber durch die einseitige Uebertreibung geradezu zur
Unwahrheit wird.
Wir sehen, wie sich ungeachtet dieser beiden Faktoren die Verhältnisse des
Handwerks seit einem Jahrzehnt gebessert und ebenso auch für den Arbeiterstand in
den letzten Jahren, trotz wechselnder Geschäftskonjunktur, weder die Arbeitsgelegen
heit noch der Lohn sich verschlechtert haben (nachweisbar haben sich Einkommen und
Lebenshaltung verbessert). Schlimmer ist der Kleinhandel, genauer der Teil, den
wir anderorts näher umgrenzt haben, daran. Bei ihm müssen also noch andere
Ursachen mitwirken. Bei weiterem Nachforschen finden wir, daß für ihn der Groß
verkehr und die mit ihm zusammenhängende Verschiebung und Umgestaltung
in Absatz und Konsum, in der Vertriebsmethode sowie dem Reklame- und Reise
wesen, dem Kredit u. s. s. von ebenso großem Einfluß ist, als die Kapitalüberlegenheit
und Illoyalität. Welche radikale Umgestaltung die technische Produktion in den
letzten Jahren erfahren hat, ist jedermann bekannt; die gleiche Wandlung aber hat,
was weniger bekannt ist, auch der Vertrieb erfahren. Was der technische Fort-