solche aber, die auch das Ausüben der Unterdrückung ablehnen, waren immer
selten, und ihre Zahl hat sich noch vermindert nach dem Kriege, der die
Keime des Hasses und die Gewalttätigkeit entwickelt hat.
Im Leben der Einzelnen gibt es, wie im Leben der Völker, Zeiten abnormer
Geistesverfassung. Heute leben wir in einer wahrhaft abnormen Zeit, wo das
Gefühl für Moral immer mehr schwindet. Aber soll man glauben, daß dieser
krankhafte Zustand der Nachkriegszeit neue Krankheitskeime entwickeln
wird, daß diese neuen Formen von Gewalt dauern werden? Soll man es für
möglich halten, daß die freien Staatsformen wirklich zertrümmert sind und
sich nicht nur in vorübergehender Krise befinden, daß die Freiheit für
dauernd geknebelt sei und uns auf lange hinaus bewaffnete Minderheiten
beherrschen werden? Wird das Beispiel dieser Phänomene Nachahmung
finden? Wird Europa auf lange Zeit zwischen Reaktion und Revolution hin-
und herschwanken, ohne den festen Grund freier Staatsformen zu finden?
Ich glaube das Gegenteil. Ich meine, daß der heutige Zustand vorübergeht,
nur eine Krise der Nachkriegszeit ist, und daß wir bald zu den liberalen
Grundsätzen zurückkehren werden, die allein Europa Gesundheit und Frieden
wiedergeben können.
Absolute Grundsätze gibt es nur in der Mathematik. Die Politik ist dagegen
ein Ausdruck des Lebens. Wie könnte ’sie absolute Grundsätze haben? Die
sozialen Formen haben nichts dauerndes und endgültiges. Die Geschichte
zeigt uns in ihren verschiedenen Epochen immer einen Kampf zwischen
Konservativ, Reaktionär, Revolution und Liberal. Aber die größten Fort-
schritte haben die modernen Länder in den Zeiten freiheitlicher Entwicklung
gemacht.
Reaktion und Revolution sind entgegengesetzte Formen, in denen sich der
wechselnde Instinkt der menschlichen Gesellschaft wechselnd äußert. Es gibt
auch in der zivilisierten Gesellschaft Zeiten, die die Reaktion verlangen; sie
ist manchmal notwendig, um die auflösenden Kräfte zu hemmen, um die
Arbeitsdisziplin und das Ansehen des Staates zu heben. So kann die Reaktion
der Freiheit förderlich sein.
Das antike Rom stand in den demokratischesten Zeiten unter der Diktatur.
Es konnte und kann in jeder Demokratie Konflikte geben, die sich nicht mit
gewöhnlichen Mitteln schlichten lassen. Aber die Diktatur im antiken Rom,
weit entfernt, einen Ansturm gegen den Staat zu bedeuten, war vielmehr Ver-
teidigung des Staates außer in wenigen Fällen von Spaltung und Bürgerkrieg.
In der republikanischen Zeit Roms war die Diktatur vom öffentlichen
Recht vorgesehen und weise geregelt. Der vom Senat ernannte Diktator wurde
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