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RECHTSBUCHSTABE UND LEBENSDRANG.
DIE GRENZEMPIRIE ZEIGTE UNS DIE WERDENDE GRENZE ALS
Kampfzone, als dreidimensionalen Kampfraum — das Rechts-
ideal aber, der Rechtsbuchstabe möchte sie am liebsten zur
mathematischen, möglichst körperlosen Linie machen, minde-
stens zum linear auf der Karte, auf dem Papier eintragbaren
Begriff, mit Buchstaben und Zahlen möglichst unverrückbar zu
umschreiben und zu beschreiben. So aber fanden wir in der
Wirklichkeit des Lebens, von seinen Erscheinungen hin- und
hergeschoben, die Grenze nicht, nirgendwo und nie, an keinem
Orte und zu keiner Zeit. Wer sie nicht wirksam bewachte
und beschützte, dem entglitt sie und entzog sie sich, auch
wenn sie mit dem Rechtsbuchstaben noch so gut festgelegt
schien. Denn freilich: Abgrenzung ist Naturgebot; aber Starr-
heit in ihr ist lebensfeindlich, an Lebensformen ein Alters-
zeichen, ein Beweis fliehenden und schwindenden, nicht
drängenden und überquellenden Lebens: In ihrer Vollendung
bedeutet sie Tod, ein Abgestorbensein, aus dem neues Leben
schließlich nur unter völliger Nichtachtung seiner alten
Lebensformen zu quellen vermag. Aber Staaten wie Völker
müssen genau wie der Einzelne des memento vivere mehr ge-
denken als des memento mori, wenn sie in dieser Zeitlichkeit
fortbestehen wollen.
So fragen wir also nicht: Wie kommt es, daß sich das Leben
dem Rechtsbuchstaben dennoch unterwarf (denn das tat es nie
und nirgendwo), sondern wie kommt es, daß sich die Grenz-
empirie mit der Grenzüberlieferung einigermaßen abgefunden
hat, auch in den Bezeichnungen, den Normen, die sie schuf?
Wir fragen nach dem Wie? zuerst wieder das Grenzbild
der Praxis: es findet sein Vorbild im Grenzstein! im eichenen