Bewußtsein, als sein gegenständlicher Inhalt, gegeben, sondern, da
unser Ich, unser Bewußtsein nichts anderes ist, als eine Äußerung,
sozusagen eine Abzweigung des Seins selber, so tritt das Sein ganz un-
mittelbar in uns hervor. Nicht müssen wir vorher etwas „erkennen“.
eine Erkenntnis verwirklichen, um zu einem Sein zu gelangen; sondern
im Gegenteil, um etwas zu erkennen, muß man doch vorher schon
sein. Und eben durch dieses ganz unmittelbare und primäre Sein ist
uns schließlich jedes Sein überhaupt erreichbar. Und man darf auch
sagen, daß im letzten Sinne der Mensch nur soviel erkennt, als er
selber ist, daß er das Sein nicht nur durch Erkenntnis und Denken
auf ideale Weise erfaßt, sondern, um es überhaupt tun zu können,
er zuerst sich realiter im Sein einwurzeln muß. Hier sehen wir, wie
der vorher besprochene Begriff der Lebenserfahrung, als Grundlage
des Wissens, mit dem Ontologismus zusammenhängt. Denn „Leben“
ist eben das reale Band zwischen „Ich“ und „Sein“, wogegen „Denken“
nur ihr ideales Band ist. Der Ausspruch „primum vivere deinde philo-
sophari“ im äußeren Sinne einer utiliteraristisch praktischen Sentenz,
ist eine ziemlich flache Banausenwahrheit; derselbe Ausspruch aber,
in einem inneren metaphysischen Sinne verstanden, als Ausdruck des
ontologischen Primates der Lebenstatsache über das Denken, birgt
einen tiefen Gedanken, der eben, sozusagen, das geistige Grundgefühl
der russischen Weltanschauung wiedergiebt.
Auf dieser Grundlage, der Tradition von Iwan Kirejewsky und
WI. Solowjew folgend, wurde in Rußland in den letzten Dezennien
eine wissenschaftlich-systematische Erkenntnistheorie—entwickelt, die,
wie man behaupten darf, gewisse” ganz originelle und in der
westlichen Philosophie ziemlich seltene Gedanken enthält. Nachdeın
Leo Lopatin in seinem Werke „Die positiven Aufgaben der Philoso-
phie‘“ schon in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts mit großem Tief-
sinne und außerordentlicher systematischer Schärfe einen Versuch zu
einer neuen Rechtfertigung und Neubelebung der Metaphysik — in
einem Zeitalter, wo auch in Rußland der Positivismus als einzige
wissenschaftliche Weltanschauung galt und jegliche Metaphysik verpönt
war — unternommen hatte, nachdem später ein anderer russischer
Philosoph, Fürst: Sergius Trubetzkoi, eine Skizze einer Erkenntnis-
theorie geliefert hatte, in, der er die Behauptung aufstellte, daß das
Wesen der Erkenntnis in einem wirklichen Hinausgehen über die
Grenzen der erkennenden Subjekts bestehe —, entstand in Nikolai
Loßkys „Grundlegung des Intuitivismus“ sozusagen das grundlegende
Werk der ontologischen Erkenntnistheorie. Ich kann hier nur die
Hauptthese dieses Systems kurz darstellen. Loßky gründet seine
Lehre auf eine ganz eigentümliche Theorie des Bewußtseins, die durch
ihre Einfachheit frappiert und als eine wissenschaftliche Wiederer-
neuerung des sogenannten „naiven Realismus“ angesehen werden kann.
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