Full text: Sozialpolitik in Österreich 1919 bis 1923

spiel im letzten Jahre und ist auch heute noch eine ziemlich 
rege Bautätigkeit. In den Städten überlassen es aber die 
Unternehmer ausschließlich der Kommunalverwaltung, 
Wohnungen für ihre Arbeiter herbeizuschaffen. 
Es gibt noch eine ganze Reihe von Fragen auf dem 
Gebiet der Sozialpolitik und insbesondere der Sozialversiche- 
rung, die ihrer Erledigung harren. 
Wenn gefragt wird, warum wir während unserer zwei— 
jährigen Regierungstätigkeit das Gebiet der Versiche— 
rung vernachlässigt haben, so ist darauf nur zu antworten, 
daß diese Materie sehr schwierig ist, um zu einem einheit— 
lichen Gedanken zu gelangen. Ich habe bereits im Februar 
1919 die Kassen zu einer Beratung wegen der Einheitskasse 
einberufen; die Beratung zerschlug sich. Damals herrschte der 
Streit zwischen Arbeiter- und Angestelltenkassen. Die ersteren 
bertraten den Standpunkt, Angestelltenkrankenkassen wären 
schädlich, letztere wieder erklärten die Angestelltenkasse für ein 
organisatorisches Bedürfnis. Man hat sich zwar nicht geeinigt, 
aber es wurde ein Entwurf mit vier Typen hergestellt: der 
Arbeiter-, der Angestellten-, der landwirtschaftlichen und der 
Fisenbahnerkrankenkasse. Diese Konzentrierung wäre gegen— 
über dem heutigen Zustand gewiß ein ungeheurer Vorteil ge— 
wesen. Gegen die Einbeziehung der landwirtschaftlichen Ar— 
beiter in die Arbeiterkrankenkassen haben sich zahlreiche Kassen— 
tage ausgesprochen, auf denen erklärt wurde, man könne die 
wohlerworbenen Kassen nicht durch ein indifferentes Prole— 
tariat in die Hände der Gegner spielen lassen. Daher kam es 
zur Schaffung der landwirtschaftlichen Krankenkassen, die, wo 
sie bestehen, heute weder leben noch sterben können. Das 
Hindernis für die Schaffung der Einheitskasse bestand darin, 
daß wir den Grundsatz aufstellten, die Unternehmer hätten, 
venn die Einheitskasse geschaffen wird, im Vorstand nichts 
mehr zu tun. GBeifall.) Sie sollen bloß in der Kontrolle sein. 
Wir sind mit den Christlichsozialen in Verhandlungen getreten, 
die jedoch erklärten, sie können von dem gegenwärtigen Zu— 
stand, wonach zwei Drittel der Vorstandsmitglieder von den 
Arbeitern, ein Drittel von den Unternehmern zu wählen seien, 
nicht abgehen, sie verlangen auch für diese zwei Drittel den 
Proporz. Die Einführung des Proporg für diese zwei Drittel 
hdedeutet, daß die Gelben, wenn sie die 17 Prozent der Stimmen 
der Arbeiter und Angestellten erhalten, mit den Unternehmern 
zusarnmen die ganze Kasse in die Hand bekämen. Zu solch
	        
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