Object: 10 Jahre Wiederaufbau

Ausspruch eines der dort geschilderten geistreichen 
Leute zu lesen: „Bei uns ist die Entrüstung so wenig 
echt wie die Begeisterung. Nur die Schadenfreude 
und der Haß gegen das Talent, die sind echt bei 
uns.” 
Wenn wir uns auch vor Augen halten müssen, 
daß es eigentlich so ziemlich in der ganzen Welt so 
ist, so trifft es doch wohl auf Wien ganz besonders 
zu, gerade weil der größte Teil unserer Bevölkerung 
so kunstbegabt ist, und sich nicht bloß viel um Kunst 
kümmert, sondern auch weil so viele sich bis zu einem 
gewissen Grade für fähig halten selbst künstlerisch 
zu produzieren, und deshalb jede neu auftretende, 
über das gewöhnliche Maß hinausreichende Leistung, 
wie einen Einbruch in das allgemeine Geschmacks- 
niveau, dem anzugehören sie stolz sind, betrachten 
und dadurch die Aufdeckung ihrer Mittelmäßigkeit 
befürchten. 
Es ist also eine Tatsache, daß gerade Wien sich 
gegen das Neue in der Kunst besonders zurückhaltend 
verhält. Doch muß man zugeben, daß Wien und 
Österreich eine gewisse, historische Berechtigung für 
diese Haltung haben. In dieser konservativen Stellung 
gegen alles „Neue” liegt ein immerhin berechtigter 
Stolz auf das schöne und bedeutende „Alte”, ein 
gesundes Kulturbewußtsein. Und dieses Be- 
wußtsein fußt auf historischer Entwicklung. Heute wie 
vor Jahrhunderten hat die alte Ostmark, der jetzige 
Länderbund Österreich die Aufgabe der vorgescho- 
benen Abwehrstellung gegen deutschfremde Einflüsse 
— die Aufgabe der Pionierarbeit für deutschen 
Geist und Kultur, und da es immer gerade die 
Kunst ist, in welcher sich der Zustand der kulturellen 
Entwicklung am deutlichsten spiegelt, ist es begreiflich 
and logisch, wenn eine gewisse Zurückhaltung gegen 
neue Experimente, die man für leichtsinnig und ge- 
fährlich hält, vorhanden ist und daß gerade auf diesem 
Gebiete ein leidenschaftliches und geräuschvolles Ge- 
zänke der Parteien in Erscheinung treten kann. 
Ich möchte hier einige Sätze aus dem Buche „Wien” 
von Franz’ Servaes zitieren, die mir sehr treffend er- 
scheinen: „Berlin, das nur wenig kulturelle Tradition 
besitzt, hat es leicht zu experimentieren und sich mit 
beweglichem Ehrgeiz dem Neuen in die Arme zu 
werfen. Es hat jedenfalls mehr zu gewinnen, als zu 
verlieren. Wien aber darf mißtrauisch sein, denn es 
hat viel zu verlieren und darum ein Recht, sich gegen 
die Buchung vorläufig zweifelhaft scheinender Ge- 
winne längere Zeit hindurch zu sträuben. Oder 
glauben Sie wirklich, daß die neuen Talente in Berlin 
um so viel früher erkannt werden als in Wien? Ich 
glaube höchstens, daß sich dort eher Leute finden, 
die Geld für sie riskieren. Gewiß, daß bedeutet volks- 
wirtschaftlich sehr viel, in kultureller Hinsicht jedoch 
zumeist nur einen Zukunftswechsel, der zweifellos 
viele Nieten enthält. Wien ist seinem ganzen Charakter 
nach eine Stadt der Traditionen und muß dies 
»leiben, auch auf dem Gebiet der Kunst. Damit ist 
ılcht gesagt, daß nichts gutes Neues hier entstehen 
zönne oder solle; es wird sich nur vorwiegend im 
Zusammenhange mit dem guten Alten zu entwickeln 
1aben, also organischer als in Berlin aus dem Boden 
ıervorwachsen müssen, oder es wird, sofern es in 
tärkerem Maße mit revolutionären Elementen ver- 
etzt ist, dann eben einen schwierigeren Stand haben 
ınd einer höheren Portion von Geduld bedürfen. Ein 
ım so größerer Ruhm wird es sein, Wien künst- 
'erisch erobert zu haben, je deutlicher es feststeht, 
laß diese Feste nicht leicht sich ergibt.” 
„Ganz besonders auf dem Gebiete der hohen 
Malerei ist Wien sehr schwer zu gewinnen. 
Denn Wien ist die Stadt der vielen und herrlichen 
jammlungen alter Meister. Und wenn diese auch von 
len Einheimischen ebensowenig besucht werden als 
n anderen Städten, so haben sie doch seit Jahr- 
ıunderten den Kunstsinn beeinflußt. Und das ist für 
lie Haltung der ganzen Stadt von Bedeutung. In 
leutschen Landen hat Wien, was die Reich- 
ıaltigkeit der Galerien angeht. keine 
Livalin.” 
Diese Sätze, die ein fremder Schriftsteller geschrieben, 
;cheinen mir für unsere Verhältnisse sehr zutreffend 
zu sein. Servaes, hat einige Jahre in Wien gelebt und, 
wie seine Schilderung zeigt, unser Wesen in seiner 
Zigenart sehr richtig erfaßt. Mehr als anderswo bleibt 
ei uns das Festhalten an der Tradition bestehen. 
Nach dem Friedensschlusse, als die Räume der 
rüheren Kunstausstellungen, die während des Krieges 
2n Spitäler verwandelt waren, sich wieder ihrem ur- 
;prünglichen Zwecke widmen konnten, sah man, daß 
ich die Verhältnisse gründlich geändert hatten. Das 
jestimmte Stammpublikum, die Protektoren und 
Vläzene, an die man so gewissermaßen gewöhnt war, 
yaren verschwunden. Vorher wußte man genau, mit 
vie viel Ausstellungsbesuchern, mit welcher Zahl von 
\nkäufen man im Jahresdurchschnitt rechnen konnte- 
Yun aber war alles neu einzurichten; in der Zeit der 
nflation wurde viel gekauft, berauschende Schein- 
arfolge verführten zu übertriebenen Hoffnungen. Eine 
stattliche Anzahl neuer Künstlervereinigungen ent- 
stand, vielfach gestützt auf Elemente, die, aus ihren 
oisherigen Stellungen gestürzt, sich auf ihre Mal-, 
Zeichen- oder Modelliertalente besannen und glaubten; 
hren Lebensunterhalt damit erwerben zu können 
Manche wirklich wertvolle Eigenart kam dabei ans 
Licht, aber natürlich überwog und überwiegt heute 
aodh die Masse der Minderwertigen. Im Ganzen aber 
müssen wir feststellen, daß es nicht berechtigt ist, wen© 
von vielen Seiten (auch in der zünftigen Kritik) immer 
wiederholt wird, daß die bildende Kunst in Öster- 
reich wenig bedeutet und hinter dem allgemeinen 
Niveau anderer Länder zurücksteht. Das ist gewiß 
nicht richtig. Gerade einige Ausstellungen der letzten 
Zeit haben uns in dieser Beziehung das Gegenteil
	        
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