sein; in staatsrechtlicher Hinsicht sollte Oesterreich
in einen Bundesstaat umgewandelt werden. Die Re-
zierung Renner wurde wieder gewählt, wobei Ver-
änderungen nur insoferne eintraten, als nunmehr der
Staatskanzler gleichzeitig als Staatssekretär des
Aeußeren fungierte, zum Staatssekretär für Justiz
Dr. Rudolf Ramek, zum Staatssekretär für Finanzen
Dr. Richard Reisch und zum Staatssekretär ohne
Portefeuille mit dem bloß persönlichen Aufgabenkreis
der Mitarbeit an der Verfassungs- und Verwaltungs-
-eform Dr. Michael Mayr bestellt wurden. Ferner
wurde Dr. Arnold Eisler zum Unterstaatssekretär für
Justiz neu gewählt, während ein Unterstaatssekretär
im Staatsamt des Aeußeren nicht mehr bestellt
wurde.
Neben den bereits genannten Aufgaben und der
sich immer schwieriger gestaltenden Vorsorge für die
Ernährung der Bevölkerung wandte die Regierung ihr
Hauptaugenmerk im Innern der Beendigung der
Sachabrüstung, der Ersetzung der Volkswehr durch
das im Friedensvertrag vorgeschriebene Söldnerheer,
der Inganghaltung der Industrie, der Hebung der
landwirtschaftlichen Produktion und der Nutzbar-
machung der heimischen Wasserkräfte zu. Im Laufe
des Jahres 1920 verschärften sich aber die
Gegensätze zwischen den beiden Koalitions-
parteien immer mehr und es kam zu verschiedenen
Koalitionskrisen. Den letzten Anstoß zum Zusammen-
bruch der Koalition gab eine Verordnung des sozial-
demokratischen Staatssekretärs für Heereswesen über
die Organisation und Wahl der Soldatenräte, die zu
heftigen Protesten der Großdeutschen und Christlich-
sozialen in der Sitzung der Nationalversammlung vom
[O. Juni 1920 führte. Am nächsten Tag demissio-
nierte die Regierung. Sie wurde zunächst mit der
Fortführung der Geschäfte betraut. Die Bildung einer
aeuen Parlamentsmehrheit durch die‘ bürgerlichen
Parteien war nicht möglich, da auch Gegensätze
zwischen den Christlichsozialen und Großdeutschen
bestanden. Ein Ende der Krise war nicht abzusehen.
Am 24. Juni wurden die christlichsozialen Staats-
and Unterstaatssekretäre auf ihr Ersuchen des Amtes
anthoben, so daß nur mehr die Sozialdemokraten
ınd die Fachmänner in der Regierung blieben. Da
sich kein anderer Ausweg zeigte, kam man schließlich
Jahin überein, Neuwahlen auszuschreiben und mit
ihrer Durchführung sowie mit der Erledigung der
augenblicklich dringendsten Aufgaben eine Regierung
zu betrauen, die nach dem Proporz von den Parteien
des Hauses gewählt sein sollte. Die Staatsämter
wurden: — abgesehen von den mit Fachmännern be-
setzten — auf die drei großen Parteien nach dem
Verhältnis ihrer Abgeordnetenzahl verteilt; jede Par-
tei wählte außer den Fächmännern nur ihre Vertreter
in die Regierung, ohne für die einer anderen Partei
angehörenden Regierungsmitglieder irgend eine Ver-
antwortung zu übernehmen. Da es demnach keine
Zesamtverantwortung für die Regierung gab, fiel das
\mt des Staatskanzlers weg und es wurde der Staats-
‚ekretär Dr. Michael Mayr mit dem Vorsitze im
Kabinett betraut. Im übrigen setzte sich das „Pro-
‚orzkabinett” folgendermaßen zusammen: Dr. Karl
ienner (Aeußeres), Walter Breisky (Inneres und
Unterricht), Dr. Julius Roller (Justiz), Dr. Richard
Zeisch (Finanzen), Eduard Heinl (Handel und Ge-
werbe, Industrie und Bauten), Dr. Karl Pesta (Ver-
xehrswesen), Ferdinand Hanusch (soziale Verwaltung),
Alois Haueis (Land- und Forstwirtschaft), Dr. Julius
Deutsch (Heereswesen), Dr. Alfred Grünbergeı
Volksernährung), Dr. Wilhelm Ellenbogen als Prä-
zident: der Sozialisierungskommission. Zu Unter-
;taatssekretären wurden bestellt: Otto Glöckel (Un-
;erricht), Wilhelm Miklas (Kultus), Dr. Josef Resch
und Dr. Julius Tandler (soziale Verwaltung).
Am 10. Oktober 1920 fand die Volksabstimmung
'n Kärnten statt, die über die Zugehörigkeit des
Klagenfurter Beckens zu Oesterreich oder Jugoslawien
antscheiden sollte. Es ergab sich eine Mehrheit von
59'14°% für Oesterreich. Das letzte Werk der Kon-
;tituierenden Nationalversammlung war die Schaffung
ler Bundesverfassung vom I. Oktober 1920, durch
lie Oesterreich zu einem Bundesstaat, bestehend aus
neun Bundesländern, umgestaltet wurde.
Aus den am 17. Oktober 1920 durchgeführten
Neuwahlen ging die Christlichsoziale Partei als die
stärkste hervor. Die Sozialdemokraten erklärten
Jaraufhin, daß nach den demokratischen Grund-
;ätzen nunmehr den Christlichsozialen die Bildung
»iner Regierung obliege, und die sozialdemo-
<ratischen Staats- und Unterstaatssekretäre legten
hre Aemter nieder. Die Bildung einer neuen
Regierung vollzog. sich unter großen Schwierigkeiten.
Van dachte zuerst an ein Fachmännerkabinett, doch
scheiterten die Verhandlungen im letzten Augen-
5lick. Erst am 20. November konnte mit den
Stimmen der Christlichsozialen und Groß®-
leutschen eine aus Beamten und christlichsozialen
Abgeordneten gebildete Regierung gewählt werden.
in der Debatte über das Regierungsprogramm er-
klärte der Sprecher der Großdeutschen, seine Partei
werde der Regierung gegenüber eine wohlwollende
Neutralität beobachten. Die Sozialdemokraten
standen von nun an in der Opposition. Der
1euen Regierung gehörten an: Dr. Michael Mayı
‘Bundeskanzler und mit der Leitung des Bundes-
ninisteriums des Aeußeren betraut), Walter Breisky
“Vizekanzler und mit der Leitung der Angelegen-
heiten des Unterrichts und Kultus betraut), Dr. Egon
Glanz (Bundesminister für Inneres und Unterricht
und mit der Leitung des Bundesministeriums für
Heereswesen betraut), Dr. Rudolf Paltauf (Justiz),
Dr. Ferdinand Grimm (Finanzen), Eduard Hein!
‘Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten),
Dr. Karl Pesta (Verkehrswesen), Dr. Josef Rescl
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