Full text: 10 Jahre Wiederaufbau

Nationalrat gewählt; es gehörten ihr an: Dr. Rudolf 
Ramek (Bundeskanzler), Dr. Leopold Waber (Vize- 
kanzler), Dr.. Heinrich Mataja (Aeußeres), Doktor 
Schneider (Unterricht), Dr. Jakob Ahrer (Finanzen), 
Dr. Schürff (Handel und Verkehr), Dr. Josef Resch 
“soziale Verwaltung), Buchinger (Land- und Forst- 
wirtschaft), Vaugoin (Heereswesen). 
Am 9. Dezember 1924 wurde Dr. Michael Hainisch 
nach Ablauf seiner vierjährigen Funktionsperiode 
für eine zweite Periode von vier Jahren wieder zum 
Bundespräsidenten gewählt. 
Das Kabinett Ramek setzte die auf den Genfer 
Protokollen, dem Wiederaufbaugesetz und den übrigen 
Vereinbarungen mit dem Völkerbund fußende Politik 
fort. Nach der Beschließung mehrerer wichtiger 
Reformgesetze im Nationalrat im Sommer 1925 schränkte 
der Generalkommissär am Il. August die Finanz- 
kontrolle ‚auf die Ueberwachung der allgemeinen 
Budgetlage ein. Im September stellte das Finanz- 
komitee fest, daß das Gleichgewicht‘ zwischen Ein- 
nahmen und Ausgaben im Staatshaushalte hergestellt 
sei, und beglückwünschte Oesterreich zu dem erzielten 
Resultat. Ab I. Jänner 1926 wurde die Kontrolle des 
Generalkommissärs auf die verpfändeten Einnahmen 
und: die Verwendung der Reste der Völkerbundanleihe 
beschränkt. Die Regierung betrachtete damit ihren 
Auftrag, das Werk der finanziellen Sanierung abzu- 
Schließen, als erfüllt und trat am 14. Jänner zurück. 
Tags darauf wurde sie mit folgenden Veränderungen 
in der Besetzung der Ministerposten neu gewählt: 
Die Führung der auswärtigen Angelegenheiten über- 
nahm der Bundeskanzler selbst, so daß kein eigener 
Außenminister mehr bestellt wurde, das Finanzressori 
wurde mit Josef Kollmann, das Landwirtschafts- 
"essort mit Andreas Thaler neu besetzt. 
Mit 30. Juni wurde, nachdem Oesterreich alle ver- 
einbarten Bedingungen erfüllt und der Völkerbundrat 
am ©, Juni die finanzielle Stabilisierung Oesterreichs 
als gesichert erklärt hatte, die Finanzkontrolle auf- 
gehoben und der Generalkommissär Dr. Zimmermann 
verließ am 4. Juli Oesterreich. 
War die Wiederaufrichtung der Staatswirt- 
Schaft glücklich gelungen, so wollte nun die 
Regierung ihre ganze Kraft auf die Wegräumung der 
Hindernisse der volkswirtschaftlichen Ent- 
Wicklung — Mangel an Kapital und Kredit, Mangel 
an. Absatzmöglichkeiten, zu hohe Steuerbelastung der 
Produktion — und damit auf die Bekämpfung der noch 
immer großen Arbeitslosigkeit konzentrieren. Am 
16. Juni 1926 demissionierte der Unterrichtsminister 
Dr. Schneider, da der Bundeskanzler Vereinbarungen, 
die der Unterrichtsminister mit derSozialdemokratischen 
Partei über einen neuen Volksschullehrplan geschlossen 
hatte, nicht zustimmte. Am 25. Juni wurde Dr. Anton 
Rintelen zum Unterrichtsminister gewählt. 
Als Ende Juni ein großes Kreditinstitut Oester- 
reichs, die Centralbank deutscher Sparkassen, zu- 
;ammenbrach, erklärte die Regierung, die Garantie 
für die Einlagen der Bank zu übernehmen. Die Re- 
gierung rechtfertigte diesen Schritt damit, daß ohne 
ihr sofortiges Eingreifen der Zusammenbruch der 
Centralbank zum Ausgangspunkt für eine die gesamte 
Volkswirtschaft schwer bedrohende Kreditkrise ge- 
worden wäre. Die Sozialdemokraten aber verurteilten 
dieses Vorgehen der Regierung auf das schärfste und 
beantragten im Nationalrat, wegen der Verwendung 
‚on Bundesgeldern ohne vorherige Genehmigung des 
Nationalrates gegen alle Mitglieder der Regierung die 
Vlinisteranklage wegen Gesetzesverletzung vor dem 
Verfassungsgerichtshofe zu erheben, was der National- 
"at am 31. August mit Mehrheitsbeschluß ablehnte. 
m Oktober 1926 kam es im Verlaufe von Verhand- 
ungen über eine Bezugsregelung zu einer Streik- 
Irohung der Organisationen der Bundesangestellten, 
worauf das Kabinett Ramek am I15. Oktober seine 
Demission beschloß. 
Der Hauptausschuß des Nationalrates betraute nun 
den früheren Bundeskanzler Dr. Seipel wieder mit der 
3ildung der Regierung, die am 20. Oktober in 
“olgender Zusammensetzung gewählt wurde: Dr. Seipe! 
Bundeskanzler), Dr. Franz Dinghofer (Vizekanzler) 
Richard Schmitz (Unterricht), Dr. Viktor Kienböck 
Finanzen), Dr.. Schürff (Handel und Verkehr), 
Dr. Resch (soziale Verwaltung), Thaler (Land- und 
Worstwirtschaft), Vaugoin en Die neue 
Regierung bereinigte die Differenzen mit den Bundes- 
angestellten und liquidierte die Centralbankangelegen- 
heit. Das erste Vierteljahr 1027 war hauptsächlich 
von langwierigen Beratungen der Regierung mit den 
Parteien über die Schaffung einer allgemeinen Arbeiter- 
versicherung ausgefüllt, die am I. April vom National- 
rat beschlossen wurde. Der Nationalrat, dessen vier- 
jährige Legislaturperiode erst im Oktober 1927 ab- 
gelaufen wäre, löste sich vorzeitig auf. Für die am 
24. April durchgeführten Neuwahlen hatten die 
bisherigen Regierungsparteien, die Christlichsozialen 
und die Großdeutschen, mit zwei kleineren bürger- 
lichen Parteien zusammen eine „Einheitsliste” auf- 
gestellt. ; 
Nach den Wahlen gewann der Bundeskanzler auch 
die dritte im Nationalrat vertretene bürgerliche Partei 
den Landbund, für den Beitritt zur Regierungsmehr- 
heit. Der am 19. Mai neugewählten Regierung gehört 
als Vertreter des Landbundes der Vizekanzler Karl 
Hartleb an. Der bisherige Vizekanzler Dr. Ding- 
hofer wurde zum Minister ohne Portefeuille bestellt 
und mit der Vorbereitung der von den Fachkreisen 
gewünschten Wiedererrichtung eines selbständigen 
Justizministeriums betraut. Ansonsten traten keine 
Aenderungen in der Zusammensetzung der Regierung 
ein. 
Der 15. und 16. Juli des Jahres 1027 waren traurige 
Tage für die junge Republik. Ein Wiener Geschwo- 
renengericht hatte drei Mitglieder der „Frontkämpfer- 
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