Full text: 10 Jahre Wiederaufbau

vereinigung”, die angeklagt waren, bei einem Zu- 
;ammenstoß von Angehörigen des sozialdemokratischen 
‚Republikanischen Schutzbundes” mit solchen der 
rechtsgerichteten „Frontkämpfervereinigung” in Schat- 
tendorf im Burgenland durch Schüsse in die Menge 
sinen Arbeiter und ein Kind getötet zu haben, frei- 
gesprochen. Bei den Demonstrationen, die gegen dieses 
Urteil in Wien stattfanden, kam es zur Zerstörung 
‚on Zeitungsredaktionen und Sicherheitswachezimmern 
und der Justizpalast wurde durch Demonstranten 
in Brand gesetzt. Beim Vorgehen der Wache gegen 
die Menge fanden vier Sicherheitsorgane und 86 
Zivilisten den Tod und zahlreiche Personen wurden 
verletzt. Die Vorgänge in der Bundeshauptstadt hatten 
auch einen Generalstreik, der aber rasch sein Ende 
nahm, zur Folge. Als das Parlament wieder zusammen- 
trat, beantragten die Sozialdemokraten, der Regierung 
wegen ihrer Haltung bei den Unruhen das Mißtrauen 
auszusprechen und einen parlamentarischen Unter- 
zuchungsausschuß einzusetzen, was aber der National- 
‚at mit Mehrheitsbeschluß ablehnte. 
Nachdem ein Bundesgesetz über die Wiedererrichtung 
eines selbständigen Justizministeriums am 
2. August im Nationalrat beschlossen worden war, 
wurde der Minister ohne Portefeuille Dr. Dinghofer 
am 31. August vom Hauptausschuß zunächst vorläufig 
and am 17. September vom Nationalrat endgültig zum 
lustizminister bestellt. 
Am 12. Oktober 1927 nahm das Komitee der die 
Völkerbundanleihe garantierenden Mächte einen An- 
ırag der österreichischen Regierung auf Zustimmung 
zur Aufnahme einer neuen Anleihe durch Oester- 
reich für produktive Investitionen im Höchstbetrage 
von 725 Millionen österreichischen Schillingan. Auchdie 
Verhandlungen der Regierung mit den Staaten, die 
Oesterreich Lebensmittelkredite gewährt hatten, und 
mit jenen, die von Oesterreich auf Grund des 
Friedensvertrages Reparationen fordern können, auf 
Rückstellung ihrer generellen Pfandrechte auf das 
Staatsvermögen und die Staatseinkünfte Oesterreichs 
zugunsten der Investitionsanleihe führten zu einem 
guten Ergebnis. Die Regierung unterbreitete bei dieser 
Gelegenheit bereits Vorschläge zur Regelung und 
Abstattung der Reliefschulden, die bei den beteiligten 
Staaten günstige Aufnahme fanden; einem mit den 
suropäischen Reliefgläubigern in London abgeschlos- 
;jenen Uebereinkommen trat bloß Italien nicht bei. Deı 
Kongreß der Vereinigten Staaten von Nordamerika, 
>hne dessen Ermächtigung die Regierung der Union 
der Rückstellung der Pfandrechte und der Regelung 
der Reliefschulden nicht zustimmen kann, kam nicht 
nehr zur Erledigung der Ermächtigungsbill, da eı 
ınfangs Juni 1928 aus innerparlamentarischen Gründen 
vorzeitig vertagt wurde; er wird wahrscheinlich erst 
wieder im Dezember 1928 zusammentreten. Daß diese 
unliebsame Verzögerung gleichwohl keine Störungen 
in der österreichischen Finanzwirtschaft hervorrief, ist 
sin Beweis für die finanzielle und wirtschaftliche Kon- 
solidierung unseres Landes, aber auch für die Spar- 
;amkeit und Gewissenhaftigkeit der von Ministe: 
Dr. Kienböck geleiteten Finanzverwaltung. 
Am ©. Juli wurde an Stelle von Dr. Franz Ding- 
hofer, Dr. Franz Slama zum Bundesminister für 
Justiz gewählt. Dr. Dinghofer hatte deshalb seine 
Demission gegeben, weil seine Parteigenossen, die 
Großdeutschen, seine Entscheidung, dem Begehren 
der ungarischen Regierung auf Auslieferung des in 
Wien verhafteten Bela Kun nicht stattzugeben, miß- 
ailligten. 
Nach einigen Monaten politischer Ruhe, in denen 
die Konsolidierung der Wirtschaft weitere und man 
xann wohl sagen beträchtliche Fortschritte machen 
<onnte, ‚folgten wieder einige Wochen der politischen 
Spannung. Die. Gegensätze zwischen den zwei stärk- 
sten politischen Selbstschutzformationen, Heimwehı 
and Schutzbund, drohten am 7. Oktober 1928, für den 
,eide Formationen Tagungen nach Wiener-Neustadıi 
anberufen hatten, eine wenig friedliche Austragung 
inden zu sollen. Daß die Lösung doch eine friedliche 
wurde, ist wohl einer der stärksten Erfolge deı 
Staatsgewalt, die an diesem Tag aus den Gegen- 
;ätzen der beiden Gruppen als der alleinige Siegeı 
ı1ervorgegangen ist. Auf der Linie dieser Entwicklung 
iegt es aber auch, daß nun Parteienverhand- 
ungen über den inneren Frieden und die 
.nnere Abrüstung eingeleitet wurden. Möge das 
Zusammenfallen dieser Bestrebungen mit dem Ab- 
schluß des ersten Jahrzehnts des Bestehens der Re- 
publik Oesterreich als gutes Omen für den Beginr 
des zweiten gelten!
	        
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