1022 die Verpflichtung auferlegt, sowohl die von diesen
Regierungen aufgestellten „Regeln zur Unterscheidung
der zivilen und militärischen Luftfahrzeuge“ — abgekürzt
meist „Begriffsbestimmungen“ genannt — zu be-
achten, als auch die Überwachung der Einhaltung dieser
Regeln durch die Annahme von Überwachungsorganen der
alliierten Mächte zuzulassen. Diese im Staatsvertrag von
St. Germain nicht begründete, durchaus widerrechtliche
Forderung der Entente mußte von der Bundesregierung
angenommen werden, weil bei den gegebenen politischen
und Machtverhältnissen jeder Widerstand dagegen von
vornherein aussichtslos erschien und weil von der An-
nahme dieser Forderungen insbesondere die Aufhebung
des jede österreichische Luftfahrt unmöglich machenden
Verbotes der Erzeugung und der Ein- und Ausfuhr von
„uüftfahrzeugen und Luftfahrzeugmaterial abhängig ge-
nacht wurde. Tatsächlich wurde dieses Verbot auch erst
aach Annahme der erwähnten Regeln durch Österreich
mit Beschluß der Botschafterkonferenz vom 14. September
1922 aufgehoben. Die Überwachung durch ein inter-
alliiertes Organ erfolgte durch den auch als Liquida-
donsorgan der Interalliierten Heeresüberwachungsaus-
schüsse bestellten Militärattache der italienischen Ge-
zandtschaft in Wien,
Diese Maßregeln wurden Deutschland und Österreich
zegenüber damit begründet, daß sie dazu dienen sollen,
die Bestimmung der Staatsverträge von Versailles und
St. Germain, wonach Luftstreitkräfte als Teile des Heer-
wesens weder zu Land noch zu Wasser unterhalten
werden dürfen, sicherzustellen. In Wirklichkeit sollten
lie von den Ententemächten erlassenen, eine Baube-
schränkung der zivilen Luftfahrzeug beinhaltenden
„Begriffsbestimmungen“ insbesondere auch dazu dienen,
das Aufkommen einer eigenen leistungsfähigen
Zivilluftfahrtin den besiegten Staaten zu ver-
hindern. Es wurden nämlich bei den Flugzeugen für die
Steigfähigkeit, die Nutzlast, die Geschwindigkeit und die
mitzuführende Betriebsstoffmenge sowie bei den Luft-
schiffen für deren Rauminhalt Höchstgrenzen festgesetzt,
bei deren Überschreiten das Luftfahrzeug als militärisch
und demgemäß ganz unabhängig von der Art seiner Ver-
wendung als verboten gilt. Diese Grenzen waren außer-
ordentlich eng bemessen. So war die Nutzlast der Flug-
zeuge einschließlich des Bedienungspersonals mit
500 Kilogramm begrenzt. Dadurch war der Bau von
mehrmotorigen Großflugzeugen, wie sie die Entente-
staaten damals schon in der Verkehrsluftfahrt verwende-
ten, für Österreich und Deutschland unmöglich gemacht.
Die höchstzulässige Geschwindigkeit bei voller Motor-
leistung war mit 170 Stundenkilometer festgesetzt. Die
höchste Steigfähigkeit war mit 4000 Meter bestimmt
und die Verwendung sogenannter überkomprimierter
Motoren verboten. Hiedurch war die Verwendung der
Flugzeuge in Gebirgsgegenden sehr erschwert. Die Höchst-
menge der von Flugzeugen mitzuführenden Betriebs-
stoffe wurde in bestimmter Abhängigkeit von der
Geschwindigkeit‘ so festgesetzt, daß von den Verkehrs-
Augzeugen Reichweiten nur bis rund 400 Kilometer erzielt
werden konnten und hiedurch die Zurücklegung größerer
Zntfernungen ohne Zwischenlandungen unmöglich wurde.
Die in den „Begriffsbestimmungen“ über die Lenkluft-
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—.
Zürich
chiffe getroffenen Anordnungen kamen für Österreich
yraktisch nicht in Betracht.
Diese Begriffsbestimmungen fanden späterhin wohl
echnisch eine Milderung (Erhöhung der zulässigen Flug-
‚eugnutzlast von 600 auf 9000 Kilogramm und der
lugzeughöchstgeschwindigkeit von 170 auf 180 Stunden-
dlometer), diesen geringfügigen technischen Erleich-
erungen stand aber als neue erschwerende Kontroll-
vdestimmung eine Vorschrift gegenüber, derzufolge die
jsterreichische Bundesregierung dem Überwachungsorgan
Vachweise über die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Flug-
‚eugen und Luftfahrtgerät zu beschaffen hat und die dem
Jberwachungsorgan das Recht einräumt, nicht nur die
'eertigen Luftfahrzeuge zu kontrollieren, sondern auch Ein-
»lick in die Konstruktionsentwürfe zu nehmen.
Während früher nur eine Kontingentierung der Vorräte
ın Motorgerät vorgesehen. war, wurde in der neuen
Tassung gefordert, daß Österreich ebenso wie Deutsch-
and außer an Motorgerät auch an Flugzeugen und
‚onstigem Luftfahrtgerät sowie an Flugzeugführern und
lugschülern eine Höchstzahl einhalte, die von dem
Jberwachungsorgan als für den Bedarf der zivilen Luft-
ahrt in Österreich (beziehungsweise in Deutschland) als
ıngemessen erachtet wird.
Bei dieser Sachlage gelang es der vom Staate weit-
sehend unterstützten deutschen Flugzeugindustrie
m Zusammenarbeiten mit vorzüglich ausgestatteten
vissenschaftlichen Forschungsanstalten erst nach Über-
vindung großer technischer Schwierigkeiten Flugzeug-
ypen zu schaffen, die zwar gemäß den Baubeschränkungen
ler Begriffsbestimmungen, doch technisch derart vervoll-
:ommnet gebaut waren, daß sie einen hervorragend
yetriebssicheren und verhältnismäßig wirtschaftlichen
leutschen Luftverkehr ermöglichten. Daß gerade dieser
Zwang, innerhalb der engen Grenzen der Begriffsbestim-
nungen das Möglichste zu leisten, dem deutschen
Verkehrsflugzeugbau eine Überlegenheit
zegenüber allen anderen Ländern verschaflte,
war eine von den Schöpfern der Begrifisbestimmungen
ılerdings nicht vorhergesehene und später von
hnen viel bedauerte Wirkung der als Industrie-
ınd Verkehrsknebelung gedachten Maßnahmen.
n Österreich, dessen Flugzeugbau während des Krieges
\usgezeichnetes geleistet hatte, war nach der langen
Interbrechung durch das Bauverbot, durch die ungünstige
virtschaftliche Lage der Nachkriegszeit und die Un-
nöglichkeit. den Bau von Flugzeugen von Staats wegen