Und mitten in einer Zeit, in der sich alle unsere Hoffnungen auf
die nationalen Beziehungen und auf den guten Willen des Auslandes
als Seifenblasen erwiesen haben, in der wir geknechtet sind und in der
unsere Ehre mit Füßen getreten wird, da schreiben wir in unsere
Reichsverfassung den Satz, daß die deutsche Jugend im Sinne der
„Völkerversöhnung“ erzogen werden soll. Und während dieselbe Ver—
fassung besagt, daß kein Deutscher einer ausländischen Regierung zur
Verfolgung und Bestrafung überliefert werden darf, werden Tausende
unserer Volksgenossen im besetzten Gebiet von belgischen und franzö—
sischen Kriegsgerichten ohne Rechtsverfahren in die Gefängnisse ge—
worfen, von der interalliierten Rheinlandkommission aus ihrer Hei—
mat ausgewiesen! Wahrlich, es gibt keinen krasseren Widerspruch
als zwischen unserer Ideologie und der Wirklichkeit!
Aus der Zusammenhanglosigkeit unseres Tuns und Denkens, aus
der fehlenden Konzentration auf die nationalen Gesichtspunkte erklärt
es sich, daß wir auf keinem Gebiet zu einem geschlossenen Auftreten
nach außen gelaugen und uns überall in leidenschaftlicher Parteiung
zersplittert. Das ist es, was Goethe vor über 100 Jahren in der
damaligen Not zu dem Ausspruch veranlaßte:
„Ich habe oft einen bitteren Schmerz einpfunden bei dem Ge—
danken an das teutsche Volk, das so achtbar im Einzelnen und so
miserabel im Ganzen ist.“
Goethe steht ja vielfach im Rufe des Weltbürgertums, deshalb ist es
von Bedentung, was er über Volk und Staat sagt. Darüber äußert
er sich in derselben Unterhaltung mit dem Geschichtsprofessor Luden
folgendermaßen:
„Eine Vergleichung des deutschen Volkes mit anderen Völkern
erregt uns peinliche Gefühle, über welche ich auf jegliche Weise hin—
wegzukommen suchte; und in der Wissenschaft und Kunst habe ich die
Schwingen gefunden, durch welche man sich darüber hinwegzu—
haben vermag . . .. Aber der Trost, den sie gewähren, ist doch
nur ein leidiger Trost und ersetzt das stolze Bewußtsein nicht, einem
großen, starken und gefürchteten Volke anzugehören. In derselben
Weise tröstet auch nur der Glaube au Deutschlands Zukunft. Ich
halte ihn fest, diesen Glauben.“
„Uns Einzelnen bleibt inzwischen nur übrig, einem jeden nach
seinen Talenten, seiner Neigung und seiner Stellung, die Bildung
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