Das Wesen der Gemeinschaft.
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bleiben sich keine allgemeine Regel aufstellen läßt. — Das Gemeinschaftsbewußtsein
ist stets auf bestimmte Gegenstände beschränkt und umfaßt also niemals das ganze
Leben der Beteiligten. Es ist vielmehr zu unterscheiden zwischen den gemeinschaft-
lichen und den persönlichen Angelegenheiten. Die legteren sind vom Gemeinschafts-
bewußtsein nicht mit umfaßt, im übrigen kann bei ilmen jeder Grad persönlicher Nähe
oder Ferne existieren. Es gibt auch Angelegenheiten, die von der Gemeinschaft nicht
mit umfaßt sind, die aber mehrere Personen des Kreises betreffen. Kraft der hierbei
vorhandenen sozialen Beziehungen kann man von einer Gemeinsamkeit im Verhalten
oder Erleben sprechen. die von der Gemeinschaft durchaus getrennt werden muß.
1. Das Verhältnis der Gemeinschaft bedeutet nach seinem allgemeinen
Charakter die engste Form der sozialen Verbundenheit überhaupt oder
diejenige Form des Soziallebens, in der dessen Eigenart am stärksten
ausgeprägt ist. Alle die einzelnen Verhaltungsweisen, die zu ihm ge-
hören wie das Selbstgefühl oder die Unterordnungsbereitschaft, die Ge-
fühlsübertragung oder die verbale Beeinflussung, treten, worauf am ge-
gebenen Ort schon mehrfach hingewiesen, innerhalb der Gemeinschaft in
besonders starkem Maße auf. Im besonderen aber ist das Gemeinschafts-
verhältnis ausgezeichnet durch eine Form der sozialen Verbundenheit,
die auf sie beschränkt ist: dieAusweitung des Ich über den Um-
fang der eigenen Person hinaus. Soweit dieser Tatbestand auftritt und
nur soweit er auftritt, haben wir es mit einem Gemeinschaftsverhältnis
zu tun. Wo ein Mensch mit einer Gruppe (oder mit gewissen Personen
oder sonstigen Gegenständen) im Gemeinschaftsverhältnis steht, da
stehen diese und ihre Angelegenheiten ihm nicht als „fremde“ gegen-
über, sondern sind seine „eigenen“. Das Ich macht an ihren Grenzen
nicht Halt, sondern umfaßt sie mit. Die Gemeinschaftshaltung bedeutet
also ein spezifisches Einheitsbewußtsein, das eine Person mit andern
Personen oder auch mit über- und unpersönlichen Gebilden. wie einer
Nation oder der eigenen Scholle, verknüpft.
Der seelische Ort, an dem dieses Einheitsbewußtsein auftritt, ist
selbstverständlich die einzelne Person. Ein Gesamtbewußtsein
oder eine Kollektivseele, ein „Wir-Bewußtsein““, das an einem andern
Orte aufträte, über den einzelnen Personen schwebte oder irgendwie
zwischen ihnen seinen Platz hätte, ist natürlich ein Mythus. Erlebt wird
jenes Einheitsbewußtsein stets in der Seele der einzelnen Menschen. Ver-
ändert ist nur der Inhalt, den das Ichbewußtsein oder das Ich selber be-
sit. „Meine Erlebnisse, soweit sie Gemeinschaftserlebnisse sind, quel-
len nicht nur aus mir selbst hervor, aus meinem isolierten Selbst, meinem
Nur-Ich-Selbst hinter dem Ichpunkt., sondern entspringen zugleich aus
den andernin mir‘“H.
1) Gerda Walther im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische For-
schung, Bd. YI S. 71.
Vierkandt. Ceselilschaftslehre