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2a ich kenne die Tanzregeln;
3a ich weiß, daß die Menschen sich unterhalten wollen oder ihre
Meinung zur Geltung bringen, oder die Versammlung stören
wollen usw.;
4a ich weiß, daß jeder Mensch zu Fuß oder zu Wagen einem be-
stimmten Ziele zustrebt: er sagt es mir auch, wenn ich ihn
frage;
5a die wohldurchdachte Heeresordnung schrieb die Aufstellung
der Hopliten in Phalanxstellung vor: diese Heeresordnung
kenne ich;
6a zahlreiche Gründe haben die Vertreter zweier Firmen ver-
anlaßt, ihre Unternehmungen zu verschmelzen, nun kommen
sie zusammen und setzen in langer Beratung den Vereinigungs-
vertrag auf, kraft dessen die Fusion stattfindet.
Diese Art von Erkenntnis nennen wir ‚Verstehen‘, und es ob-
liegt uns nun nur noch, die Besonderheit dieser Erkenntnisweise
merkmalmäßig zu bestimmen. Was heißt das: „ich verstehe‘“ eine
Erscheinung?
Wenn wir den Erkenntnisweg in Betracht ziehen, den wir beim
Verstehen durchmessen — und darauf kommt es ja wohl vor allem
an —, so können wir Verstehen Sinnerfassen nennen. Wir machen
uns eine Erscheinung dadurch verständlich, daß wir ihren „Sinn“ zu
ergründen suchen, das aber bedeutet wieder: daß wir sie in einen uns
bekannten Zusammenhang einbeziehen. Wir kennen die Regeln
eines Spiels und wissen, welche Handlungen vorzunehmen sind, wenn
man in diesem Spiele gewinnen will. Nehmen wir Handlungen. wahr,
die sich aus' den Zwecken des Spiels deuten lassen, so verstehen wir
sie als solche Spielhandlungen. Natürlich können wir uns „irren“:
vielleicht spielten die Leute auf der Wiese gar nicht Fußball, sondern
Rugby oder sie „rauften‘“ sich nur, dann haben wir ihre Handlungs-
weise eben nicht „verstanden‘, oder richtiger: „mißverstanden“.
Eine Erscheinung, ein Vorgang kann gleichzeitig an mehreren Sinn-
zusammenhängen teilhaben, dann „verstehen“ wir sie in ihrer mehr-
fachen Sinnbezogenheit: in Fall 3a sind die Zusammenhänge die
Sprache, der Zweck des Sprechenden, der Zweck der Versammlung,
in dem das Durcheinanderschwatzen stattfindet usw.
LO *