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sprechung von Sein und Denken liegt das Geheimnis der Frucht-
barkeit aller Theorien auf geistwissenschaftlichem Gebiete.
Wenn man, was man gewiß nicht braucht, die Mahnung, mit denen
der Herr die Erzengel entläßt, nicht nominalistisch-kritizistisch-tran-
szendental deutet, so enthält sie den schönsten Ausdruck, den wir
finden können, um das Wesen der Theorie zu kennzeichnen:
„Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, nn
Umfaß euch mit der Liebe holden Schranken,
Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
Befestiget mit dauernden Gedanken.“
Da die in unserer Wissenschaft verwendeten Begriffe, wie wir
wissen (siehe das 14. Kapitel) fast durchgängig Wesensbegriffe sind,
so ist unsere Theorie, die wir in und aus diesen Begriffen bilden, in
ihrem Kern Wesensdenken, wie es jetzt die Phänomenologisten
nennen 15.
Was Theorie sei und bedeutet, werden wir noch besser verstehen,
wenn wir die verschiedenen Teilaufgaben, die sie zu erfüllen hat, uns
klarzumachen versuchen. Nach den im vorigen Abschnitt entwickelten
Grundsätzen wird eine vollständige Theorie abzielen auf:
I. die Schaffung eines Gesamtsystems der Wissenschaft;
II. die Einfügung eines entsprechenden Begriffssystems in. das
System der Wissenschaft;
II. die Herausarbeitung einer Gesetzeslehre im weiteren Sinne,
die wir besser bezeichnen können als
Jie Lehre von den Denkbarkeiten. Diese umfaßt aber drei Be-
standtejle. nämlich:
ı. die Lehre von den Möglichkeiten; ;
», die Lehre von den Wahrscheinlichkeiten; ;
3. die Lehre von den Notwendigkeiten.
womit folgendes gemeint ist:
:. die Lehre von den Möglichkeiten gibt eine Übersicht über
lie denkbaren Möglichkeiten eines Sachverhaltes. Diese Übersicht
15 Vgl. außer den Husserlschen Schriften z. B. noch Reyer, Einführung
in die Phänomenolorie. za25. S. 298£. u. 5.