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Diese höchst seltsamen Gedankengänge erstrecken sich — man
sollte es nicht für möglich halten — bis in die Gegenwart hinein.
Las ich doch unlängst bei einem jüngeren deutschen National-
ökonomen folgende, denkwürdige Zeilen: „Es geht nicht an, ein-
fach objektive Nationalökonomie treiben zu wollen, indem man
‚die Werturteile ausschaltet‘. Die wirtschaftliche Wirklichkeit, das
wirtschaftliche ‚Leben‘ ist ja eine Synthese von Tatsachen, die wir
als kausal erfaßbar, als ursächlich begründbar bezeichnen und von
Bewegungen, Strömungen, Wertungen, welche diese Tatsachen zu-
einander in die verschiedensten (aber subjektiven und relativis tischen)
Beziehungen setzen... Der Versuch, die Werturteile aus der National-
ökonomie auszumerzen, muß als gescheitert angesehen werden ... Die
Nationalökonomie ist damit der ‚Wirklichkeit‘ nicht näher gekommen,
denn auch die Zielsetzungen und subjektiven Forderungen gehören
zum ‚wirtschaftlichen Leben‘, in diesem Sinne sogar zur wirtschaft-
lichen ‚Wirklichkeit‘ ®.
In einer sehr vertieften Weise ist auch in dem hedeutenden Werke
Rudolf Stammlers über „Wirtschaft und Recht‘ (zuerst 1896)
der Gedanke vertreten worden, daß die Struktur der Gesellschaft mit
logischer Notwendigkeit eine teleologische Betrachtungsweise er-
heische, somit also auch die richtende Nationalökonomie die einzig
mögliche Form dieses Wissenszweiges sei.
Der erkenntnistheoretische Beweis für die Erkennbarkeit des Sein-
sollenden mit Hilfe verstandesmäßiger Kategorien geht vornehmlich
auf Kant zurück und gipfelt, wie bekannt, darin, daß dieser Philo-
soph für den Bereich der praktischen Vernunft dieselbe Zurück-
führung auf evidente Aprioris glaubt vornehmen zu können wie für
den Bereich der theoretischen. Hierher gehört die Literatur, die an
das genannte Werk von R. Stammler, anknüpft.
Unter Benutzung der Kanischen Beweisführung ist auch in der
neuesten Zeit wieder in einem beachtenswerten Werke“ die Soll-
sphäre als Untersuchungsgebiet der Nationalökonomie in Anspruch
genommen worden. Es wird hier sogar der Beweis zu führen ver-
sucht, daß eine „normative‘“ (richtende) Gestaltung unserer Wissen-
6 Hermann Levy, Nationalökonomie und Wirklichkeit. 1928, S. gaf.
5% Friasda Wunderlich, Produktivität. 1926.