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Kapitel II.
Die heutigen Besitz- und Betriebsverhält
nisse des Privatgrundbesitzes.^
Durch die historischen, sowie auch die wirtschaftlichen Verhält
nisse wurde die Entwicklung des Privatgrundbesitzes in den neurussischen
Gouvernements sehr begünstigt. Da in diesem erst im XVIII. Jahrhundert
von Russland annektierten Gebiete die Leibeigenschaft eine verhältnis
mässig sehr kurze Geschichte hinter sich hatte, so konnten dieselben
festen Hörigkeitsverhältnisse zwischen den Grundherren und den Bauern,
wie es z. B. in Nord- oder Zentralrussland der Fall gewesen ist, keinen
festen Fuss fassen. Die Einwohnerschaft Neurusslands bestand anfangs
aus Ausländern. Zu den Ansiedelungszwecken und auch aus kriegs
politischen Gründen unternahm die Regierung eine grosse Kolonisierung
des Gebietes. Einerseits gab sie das Land den Adeligen in den Lehn
besitz, anderseits ermöglichte sie es ihnen, unter höchst günstigen Be
dingungen das Land als Allodialbesitz zu erwerben und ergriff zugleich
verschiedene Massnahmen, um die ausländischen Kolonisten, am meisten
Deutsche, und russische Kaufleute heranzulocken. Da grosse Flächen
■) Unter dem Ausdrucke «Privatgrundbesitz» wird sowohl in der russischen öko
nomischen Literatur wie auch in den Regierungsschriiten ein Grundbesitz dem bäuerlichen
Gemeindebesitze einerseits und dem bäuerlichen Grundbesitze im allgemeinen anderseits
entgegengestellt. In diesem letzten Falle — und das ist die Regel — ist unter dem
Ausdruck «Privatgrundbesitz» nur der gutsherrliche Besitz gemeint. Das ist ein ver
alteter, durch die historische Tradition überbrachter Ausdruck, der aus der Zeit der
Bauernleibeigenschaft, wo der «Privatgrundbesitz» nur gutsherrlicher Besitz, der bäuerliche
Grundbesitz nur Gemeindebesitz sein konnte, übergegangen ist. Umwandlungen im Wirt
schaftsleben in Russland, insbesondere in den südrussischen Gouvernements, haben zu
den Gutsherren als Grundbesitzer auch die Vertreter aller anderen Stände, speziell die
der Bauernschaft hinzugefügt. Darum werden wir unter «Privatgrundbesitz» in dieser
Arbeit sowohl den gutsherrlichen, als auch den bäuerlichen Privatgrundbesitz verstehen.