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Die große Masse der Bevölkerung erlangt die Kenntnis der
wahren Verhältnisse nicht, auch nicht von den von Zeit zu Zeit sich
hören lassenden Fachrednern.
Vor kurzem hat doch im Gremium der Wiener Kaufmannschaft
Herr Philipp Broch vorgetragen: „daß wir uns nicht in einer be
deutenden Wirtschaftskrise befinden“!
Die Bevölkerung hat sich gerne mit schönen Hoffnungen ab
speisen lassen, wozu aber solche Selbsttäuschungen führen, zeigt
die heutige allgemeine Lage. Es ist die höchste Zeit, an eine ernste
Abrechnung und an männliches Handeln zu denken.
Zirka 100.000 Wiener Arbeiter haben keine Beschäftigung, in
anderen Zentren geht es nicht besser; der Bauer auf dem Lande im
Osten hat seine Brotportionen verkleinert und wird zum Anpflanzen
im Frühjahr keine Erdäpfel haben, er lebt von Kraut!
Man hört nur ein trauriges Wort, d. i. „österreichisches Elend“.
Die Unzufriedenheit wächst und die Folgen dieser ernsten Er
scheinung können bedrohliche Formen annehmen.
Die Leute verzweifeln, suchen im Trinken Vergessenheit und im
Lotto ihr Glück. Im Jahre 1911 hat man in Österreich 26 Millionen
Kronen im Kleinlotto verspielt, d. i. um 5 Millionen Kronen mehr,
als man präliminiert hat.
Der traurige Zustand in Österreich ist klar und ist als eine Folge
der Niederlage auf dem Weltmärkte anzusehen. Wenn alle modernen
Staaten mit ihrem Fortschritte in der Industrie und im Ackerbau in
den weiten Landen der Erde das Geld zu verdienen trachten, rettet
Österreich seine Existenz mit den Verdiensten aus der Emigration
und mit dem Exporte von Zucker, Holz und Hühnereiern.
Alle anderen Produktionsarten versiegen von Jahr zu Jahr. Eine
traurige Tatsache.
Ein Resultat der Kurzsichtigkeit des herrschenden veralteten
Bureaukratismus, des größten Feindes der Monarchie, welcher den
Wohlstand der Völker untergraben und vernichtet hat. Obwohl der
Bureaukratismus und der Fortschritt einander gar nicht kennen,
vertragen sich dieselben todfeindlich nicht. Sogar den gewöhn 1
liehen bekannten Nachahmungsweg des nördlichen Bundesgenossen
in bczUg auf Hebung der Volkswirtschaft und Kolonialpolitik wollte
man nicht betreten.