310
und Indianer in die Geschichtsschreibung für einen Ausfluß unseres
‚sozialpolitischen‘“ Zeitalters ansehen, das auch den Armen und
Elenden gerecht werden will, und darum gering achten: Breysig wird
anderer Meinung sein, und niemand kann ihn widerlegen. Wenn der
Posamentenfabrikant Alfred Müller in Krimmitschau beim fünf-
undzwanzigjährigen Bestehen seines Unternehmens dessen „Ge-
schichte“ schreiben läßt, so haben wir auch diese als einen Beitrag
zur Geschichtswissenschaft anzuerkennen. Für ihn und seine Ge-
schäftsfreunde ist eben nichts wichtiger aus der ganzen Vergangenheit
als das Ergehen dieser Firma. Kommt es etwa auf die Größe des
Interessenkreises an? Aber es gibt mehr Menschen, die sich für die
Geschichte der Briefmarken oder des Boxsports interessieren als für
die Geschichte der ägyptischen Könige. Übrigens kann der „Wert“
einer Geschichtsdarstellung durch die Darstellung begründet
werden: eine geistvolle „Geschichte“ (= Darstellung) der Haus-
industrie im Mittelalter, an der Hedda Gabler so großen Anstoß
nahm, kann wertvoller sein als eine langweilige ‚Geschichte‘ der
Perserkönige oder des Christentums. Schließlich kommt es mehr
darauf an, wer über etwas schreibt, als über was er schreibt. Der
begabte Forscher wird auch schon den wertvollen Stoff finden. Wollte
man aber zur Geschichte nur diejenigen Ereignisse als „wichtig“
vechnen, die wirkungsvoll, meinetwegen in ganz großem Stil, ge-
wesen sind, so würde man damit auch keine Gattung von Tatsachen
zrundsätzlich aus ihrem Bereich ausschließen können: die
Schweinezucht in einem Lande kann für dessen „Schicksal“ von
größerer Bedeutung sein als ein genialer Feldherr und dessen sieg-
reiche Schlachten, wenn etwa dieses Schicksal durch eine Hunger-
blockade entschieden wird.
Unzulässig scheint es mir zu sein, mit Hilfe dieses Begriffs der
‚Wirksamkeit“ einen Hauptstrom und einen Nebenstrom' der Ge-
schichte, einen aktiven und einen passiven Teil des Geschehens zu
unterscheiden, und etwa Staaten- oder politische Geschichte als die
„eigentliche“, „echte“ Geschichte auszuscheiden und ihr die „Kultur-
geschichte“ als das nebensächliche Beiwerk gegenüberzustellen, wie
es eine Zeitlang Mode war, Einem solchen Versuch gegenüber müssen
wir geltend machen, daß die Erfindung der Pockenimpfung oder das