Von Professor Dr. Otto 'N e u r a t h, der neuen Handelsakademie in Wien.
Vorbemerkungen.
Die folgende Artikelserie gibt im großen und
ganzen eine Reihe von Vorlesungen wieder, die in
den Monaten März und April in Wien für Militär
intendanturbeamte gehalten wurden. Zweck der
Vorlesungen war es, eine allgemeine Orientierung
über die wichtigsten Probleme zu bieten und vor
allem das Wesentliche an den verschiedenen
Fragestellungen und Betrachtungsweisen zu zeigen.
Von einem systematischen Aufbau wurde abge
sehen. Ein solcher wäre auch heute noch sehr
schwierig zu geben, da die Kriegswirtschaftslehre
eine junge Disziplin ist,*) wird doch im folgenden
das erste Mal der Versuch gewagt, die Kriegs
wirtschaftslehre prinzipiell als Ganzes theoretisch
zu skizzieren. Wenn auch alle kriegswirtschaft
lichen Fragegruppen Berücksichtigung fanden, so
war es doch andererseits naheliegend, vor allem
an die Beschaffung der für den Krieg erforder
lichen Mittel anzuknüpfen. Es sei ausdrücklich
hervorgehoben, daß die folgenden Ausführungen
weder einer Apologie des Friedens, noch einer
des Krieges ihren Ursprung verdanken, sondern
rein objektiven Charakter tragen.**)
I. Die Kriegswirtschaftslehre als Sonder-
disziplin.
Die Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich
mit der Frage, wie der Wohlstand von der Art
der gesellschaftlichen Organisation abhängt, wel-
*) Vgl.: Otto Neurath: Die Kriegswirtschaft. Jahres
bericht der Neuen Wiener Handelsakademie, 1910, Otto
Neurath, Artikel «Kriegswirtschaft» in Meyers Konversa
tionslexikon, Ergänzungsband 1913, S. 523 ff. Otto Neu
rath: Die Kriegswirtschaftslehre als Sonderdisziplin,
Weltwirtschaftliches Archiv, l. Band, April 1913, Heft 2,
S. 342 ff. Otto Neurath: Probleme der Kriegswirtschafts
lehre. Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft,
Jahrgang 1013, Heft 4, S. 438 ff.
**) Die Veranlassung zur Abhaltung der Vorträge,
die in etwa 6—8 unmittelbaraufeinander folgenden Heften
unseres Blattes zur Veröffentlichung kommen werden,
gipg vom Chef der ökonomischen Sektion des Kriegs-
rninisteriums aus. Die Vorträge dienen in hervorragender
Weise dazu, die für den Beruf des Militärintendantur
beamten nötigen Kenntnisse auf einem ungemein wich
tigen Gebiete zu klären, und sind des eingehenden
Studiums wohl ebenso wert, wie das operative Ver-
pflegswesen, dem sie würdig zur Seite gestellt werden
können.
che die Verteilung der Güter und ihre Erzeugung
beeinflußt. Diese Wissenschaft ist noch nicht ge
nügend durchgebildet, um ausreichend scharf
definiert werden zu können. Aehnlich steht es
begreiflicherweise mit Teilgebieten, die unter der
mangelhaften Entwicklung der Gesamtwissenschaft
mit zu leiden haben. Man kann Wirtschaftsorga
nisationen verschiedener Art untersuchen und sie
nach verschiedenen Gesichtspunkten klassifizieren.
Eine dieser Abgrenzungen führt uns dazu, die Wir
kungen des Krieges und der Kriegsrüstungen auf
den Wohlstand der Menschen zu untersuchen.
Ich habe für diese Disziplin den Namen Kriegs-
wirtsch'aftslehre in Vorschlag gebracht. Wenn die
Volkswirtschaftslehre bereits ganz ausgebaut wäre,
müßten alle jene Fragen, die sich auf diesem
Spezialgebiete ergeben, bereits beantwortet vor
liegen. Dies ist nur teilweise der Fall und man
muß daher vielfach um die Kriegswirtschaftslehre
einigermaßen vollständig abhandeln zu können,
neue Betrachtungen einfügen, die aber schließlich
auch in der Gesamtwissenschaft Aufnahme finden
werden. Die Kriegswirtschaftslehre regt nämlich
zu einer Reihe fruchtbarer Fragestellungen an, da
gerade durch den Krieg sehr auffallende Erschei
nungen hervorgerufen werden, di e einer genauen
Untersuchung wert sind.
Bisher gibt es zwar schon eine Reihe treff
licher kriegswirtschaftlicher Spezialarbeiten, so von
Riesser, Jöhrs, Voelcker und anderen, aber noch
keine zusammenfassende Darstellung. Dies erklärt
sich zum Teil daraus, daß die Volkswirtschafts
lehre der neuesten Zeit vom sogenannten eng
lischen Liberalismus ausging, der die Anschauung
vertrat, die Menschen würden am meisten pro
duzieren und konsumieren können, wenn es keine
Zollschranken, keine Beschränkungen im Inlande,
wie sie zum Beispiel das Gewerberecht enthält,
geben würde. Dieser Anschauungsweise waren
nur jene Probleme geläufig, welche sich mit der
freien Konkurrenz beschäftigten. Der Krieg war
für sie bloß eine Störung der Produktion und
Konsumtion. Die Frage, ob ein Volk durch einen
Krieg nicht reicher werden könnte, wurde kaum
berührt. JDoch darf man nicht glauben, daß etwa
alle Freihändler gegen den Krieg waren. Es gab