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ideale Gedankenwelt auch niemals eine die breitesten Volksschichten be
geisternde und mit sich fortreißende Massenbewegung wie der heutige wissen
schaftliche und marxistische Sozialismus werden! Nur ganz kurz konnten
wir daher in diesen Ausführungen, die im wesentlichen praktischen Zwecken
dienen und auf irgendwelche Vollständigkeit naturgemäß nicht den gering
sten Anspruch erheben, auf die gemeinsamen geistigen Grundlagen dieser
Gedankenwelt eingehen und nur in ganz großen Zügen können wir hier
einige ihrer hauptsächlichsten heute noch bekannten und eine gewisse geistige
Nachwirkung nusübenden Vertreter im Bilde vorführen.
An erster Stelle erwähnen wir den äußerst geistvollen und kenntnis
reichen 1760 in Paris als Sprosse eines der vornehmsten und reichsten fran
zösischen Adelsgeschlechter, das seinen Ursprung auf die Kapetinger zurück
führte, geborenen Grafen Saint Simon. Unter Washington stellte er
sich der amerikanischen Freiheitsbewegung zur Verfügung und trug sich mit
großen praktischen Plänen, z. B. der Anlegung des Panamakauals, ohne
indes ihre Verwirklichung erreichen zu können. Durch die französische große
Revolution verlor er sein ganzes, großes Vermögen, wandte sich nunmehr
schriftstellerischer Betätigung zu, die ihm aber nennenswerte Erträgnisse
nicht abwarf, geriet immer mehr in Bedrängnis und starb schließlich, ohne
Einfluß auf die Massen erlangt und ohne sein System diesen zugänglich ge
macht zu haben, 1825 in Paris in Armut und Dürftigkeit.
Er vereinigte in sich eine höchst seltsame Mischung eines religiösen
Schwärmers — insofern wohl Tolstoi vergleichbar — und eines idealen
Politikers, der fast nie den Boden der realen Wirklichkeit zu gewinnen ver
stand. In seinen Hauptwerken „l^eorxaniZation cke !a zoriste europeenno"
(1814) und „Nouveau Christianisme“ (1825) betont er die ungeheure Wich
tigkeit der Industrie und bejaht er die ungeheures Aufsehen und ihm einen
Prozeß eintragende Frage, ob Frankreich mehr verlieren würde durch den
plötzlichen Tod der 3000 größten Gelehrten und Industriellen als durch den
Tod der 3000 höchsten Würdenträger einschließlich der königlichen Familie.
Das Königtum, als dessen Anhänger er sich bekennt, müsse sich auf die pro
duktiven Kräfte der gesamten Nation stützen. Die Befähigtsten der Acker
bauern, Kaufleute und Fabrikanten müßten die Staatsverwaltung in die
Hand nehmen. Der Hauptfehler des Christentums fei seine Verkennung der
leiblichen Bedürfnisse der Menschheit und seine Erklärung: „Mein Reich ist
nicht von dieser Welt." Eine neue Religion müsse gegründet werden, der
Protestantismus fei auf halbem Wege stehen geblieben und habe daher allen
Einfluß auf die Massen verloren. Die Volkssouveränität verwirft er ebenso
wie die schrankenlose Freiheit des einzelnen. Das Privateigentum, auch
das an Produktionsmitteln, verwirft er keineswegs grundsätzlich, wohl aber
das Erbrecht. Nur die Gesamtheit, nicht der einzelne soll Erbe sein. Auf
die Weise würde das Individuum nicht nur für sich, sondern auch für die
Gesamtheit schaffen, so würde die heute zerstörte Harmonie der Gesellschaft
wieder hergestellt werden. Gerade durch diese rücksichtslose Bekämpfung des
Erbrechts hat Saint Simon einen auch heute noch in der Frage der Erb
rechtsreform nachwirkenden weitgehenden Einfluß ausgeübt. Er ist der erste
moderne Schriftsteller, der die Frage einer Reform des- Erbrechts in den
Fluß gebracht hpt, aus dem sie bis zur gegenwärtigen Stunde nicht wieder