Full text: Wissenschaftlicher Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus und Bolschewismus

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Viertes Kapitel. 
Der wissenschaftliche Anarchismus. 
Will man sein Wesen recht verstehen, so hat man' sich von zwei — 
selbst in den gebildetsten Volksschichten — weit verbreiteten Anschauungen 
völlig frei zu machen: nämlich einmal, als ob der Anarchismus weiter nichts 
bedeute als die radikalste Richtung -des Sozialismus und der Sozialdemo 
kratie, und ferner, daß er nichts Anderes darstelle als eine verbrecherische 
Sekte ähnlich etwa den Nihilisten Rußlands und den praktischen Bolsche 
wisten der Gegenwart. Nichts irrigeres als das. Ein fchärferer grund 
legenderer Gegensatz als zwischen Anarchismus und Sozialismus läßt sich 
überhaupt gar nicht denken. Der Sozialismus proklamiert fast die Allmacht 
des Staates, der Gesellschaft und der Gesamtheit, jedenfalls dehnt er ihre 
Einflußsphäre in gang ungeheurer Weise aus, der Anarchismus dagegen be 
deutet die grundsätzliche Verneinung eines jeden Staates und eines 'jeden 
Rechtszwanges überhaupt, und seien sie noch so liberal -und demokratisch, er 
negiert' das Recht des 'Rechts und verkündet das weitgehendste Selbst- 
bestimmungsrecht des Einzelnen. Die vollste Souveränität foll dem Indi 
viduum zukommen, jedweder Zwang auf ihn wird verpönt und ist tief un 
sittlich, der Anarchismus ist die Verkörperung des extremsten wirtschaftlichen 
wie politischen Liberalismus, wie Feuer und Wasser stehen sich Sozialismus 
und Individualismus gegenüber. Unüberbrückbare Gegensätze klaffen zwi 
schen ihnen! Und sodann: Mit der Propaganda der Tat hat der Anarchis 
mus als solcher, d. h. als 'sozialphilosophisches Lehrsystem nicht das Mindeste 
zu tun-, seine wissenschaftlichen Hauptvertreter, denen wir auf den folgenden 
Zeilen eine -kurze Darstellung widmen wollen: Der Franzose Proudhon. 
der Deutsche Stirner und der Russe Tolstoy waren schärfste Gegner 
jedweder Eemalttätigkeiten und erst recht einer jeden planmäßigen Revo 
lution. Sie weilen durcbaus im Reich der reinen Gedanken! Ganz -anders 
die sogen, „praktischen Anarchisten", die Vertreter der Propaganda der Tat, 
zu deren geistigen Führern insbesondere die Russen Michael Bakunin 
(1814—1876), der dem königlichen Hause der RuriksV entsprossene Fürst 
Kropotkin und N et s chaj ew gehören. Sie verherrlichen allerdings 
das politische Verbrechen jeder Art -und begünstigen die bewußte, planmäßige 
revolutionäre Taktik. Ganz im Gegensatz -zu den wissenschaftlichen An 
archisten, die uns hier allein -ganz kurz -beschäftigen sollen, verlangen sie den 
gewaltsanien Abbruch aller bestehenden- Zustände in Staat und in der Ge 
sellschaft. Sie interessieren mehr den Strafrechtler und Staatsanwalt als 
den Nationalökonomen und Sozialpolitiker, genau wie es heute beim 
„praktischen Bolschewisten" der Fall ist.
	        
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