160 I. Buch B III: K. Oldenberg, Wirtschaft, Bedarf u. Konsum. §10
im Interesse mäßiger und stabiler Preise von Existenzgütern x ), sei es durch eigenen
Dazwischentritt der Obrigkeit als nachfragendem Faktor: Staat oder Gemeinde be
friedigen eigenhändig wichtige aber latente Bedürfnisse, die durch Nachfrage der
bedürftigen Konsumenten selbst nicht genügend zur Geltung gebracht werden,
entweder infolge der Enge ihres Gesichtskreises, oder wegen mangelnder Kaufkraft:
Pflege von Kunst und Wissenschaft, Wohlfahrtspflege bis zur amtlichen Speisung
von Schulkindern, Armenpflege; alles auf dem Gebiet öffentlicher Aufgaben,
das man mit dem Omnibusbegriffe des staatlichen (oder kommunalen) Kultur- und
Wohlfahrtszwecks umschreibt. Aber auch die Aufgaben des staatlichen Rechts
und Machtzwecks sind nichts anderes, als eine bevormundende Lenkung der Nach
frage. So können wir die Ausdehnung der staatlichen und kommunalen Tätigkeit
als eine zunehmende Verstaatlichung oder Kommunalisierung der Nachfrage be
zeichnen. Eine positive obrigkeitliche Einflußnahme auf die Konsumtion finden
wir schließlich auch in den Wohlfahrtseinrichtungen öffentlicher Betriebe, die in der
Wohlfahrtspflege privater Arbeitgeber ihr Seitenstück finden; beide stellen zugleich
ein Stück Naturallohn dar.
Der obrigkeitlichen Konsumtionspolitik stehen als eine Art Selbsthilfe gegen die
Gefahren ungeregelter Konsumtion die Abstinenz- und Mäßigkeitsvereine zur Seite,
die gegen den Alkohol kämpfen; sie haben in germanischen Ländern mehr Anhang 2 )
als in den romanischen Weinländern. Viel schwächer ist die Agitation gegen den
Tabakkonsum. Im wesentlichen der Vergangenheit gehören Vereine gegen den
Kleiderluxus an. Nicht ohne Bedeutung sind die Sittlichkeitsvereine, wenn auch
einen viel weitergehenden sittlichen Einfluß auf das ganze Gebiet der Konsumtion
die Kirche und noch intensiver die Sekte übt.
§ 10. Speziell Einfluß der Steuer auf die Konsumtion.
Wie jede Verteuerung einer Ware die Nachfrage vom Optimum der sonst mög
lichen Befriedigung ablenkt, so auch die Verteuerung durch die Steuer, insbesondere
durch Aufwandsteuern, die einzelne Güter differenziell belasten.
Für die Wirkung der Steuer auf den Konsum ist die Zuckersteuer ein
Beispiel. Der deutsche Zuckerkonsum, in den 70er Jahren 6 kg pro Kopf, stieg bei
0 Die Verhütung starker Preisschwankungen bei wichtigen Nahrungsmitteln wurde,
abgesehen von den in der vorigen Fußnote erwähnten Maßnahmen gegen Hungersnöte und
Teuerung, und abgesehen von Brot- und Fleischtaxen, auch durch die gleitenden Qetreidezölle
erstrebt, die bei steigendem Qetreidepreis sich ermäßigen. Ueber ihre Bewährung, nament
lich in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sind die Meinungen geteilt; während
unter dem Einfluß der freihändlerischen Antikornzollagitation das Urteil über sie mißgünstig
getrübt wurde, greift man neuerdings auf dieses Rezept zurück (Kühn, in Mentzel und v.
Lengerkes landwirtschaftlichem Kalender 1896. v. d. Goltz, Vorlesungen über Agrar
wesen, 1899. Human, Der deutsch-russische Handelsvertrag, 1900. Gr ab ein, Die deut
schen Getreidezölle der Zukunft, 1900. Krehl, Der bewegliche Getreidezoll, Greifswalder
Dissertation 1905. Henningsen, Die gleitende Skala für Getreidezölle, 1912). Das groß
artigste Projekt für eine Stabilisierung des Getreidepreises ist die Monopolisierung der Ge
treideeinfuhr, in Deutschland unter dem Etikett des Antrags Kanitz bekannt.
2 ) ln Deutschland schneller Aufschwung (nach zeitweiligem Hochstande schon vor Jahr
zehnten) im 20. Jahrhundert. Nach dem Reichsarbeitsblatte 1910, S. 196 stieg die Mitglieder
zahl des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke (Mäßigkeit) 1900—1909
von 13 872 auf 34 618, des Guttemplerordens (Abstinenz) von 9237 auf 40 053 (ungerechnet
12 752 Jugendliche), des Deutschen Hauptvereins des Blauen Kreuzes (Abstinenz) von 9248
auf 35 302 (ungerechnet 6095 Jugendliche). Im ganzen waren 1909 abstinent in Deutschland
etwa 140 000 organisierte Personen (darunter 271 Mitglieder des Deutschen Bunds abstinenter
Studenten), ungerechnet die organisierten Anhänger der Mäßigkeit; nach anderer Schätzung
Anfang 1910 über 200 000 Personen. Unvergleichlich größer ist die Verbreitung der Abstinenz
in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Skandinavien, wie ja auch die Schankgesetz
gebung des Auslands eine viel radikalere ist. Auch auf dem Höhepunkte der ersten deutschen
Mäßigkeitsbewegung, 1845, rechnete man mit viel größeren Zahlen: schätzungsweise 1 650 000
organisierte Abstinenzler und Mäßige. Vgl. die Skizze der Temperenzbewegung im Reichs
arbeitsblatt 1906, S. 455 f.