Full text: Vergangenheit und Zukunft der Sozialwissenschaften

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Schritt und Tritt und kein Virgil erscheint zu seiner 
Rettung. 
Im Mittelalter gab es keine Sozialwissenschaften 
in unserem Sinne. Soziale Bewegungen und soziale 
Probleme, die man diskutieren konnte, gab es zwar 
genug. Aber im großen und ganzen änderten sich die 
Grundlagen der sozialen Organisation dort so lang 
sam, daß sie nicht leicht jemand prinzipiell in Frage 
zog oder sie überhaupt als Probleme empfand: Dazu 
standen Kirche und Herrenhof zu fest, dazu er 
schienen sie zu sehr als selbstverständlich oder als 
gottgeboten. Und gab es ernste Differenzen, so focht 
man sie eben aus, ohne daß sich, sei es die Kämpfen 
den, sei es die Zuschauer, allzuviel Gedanken darü 
ber gemacht hätten. Mochte auch manchmal ein 
Frondeur oder ein Haeretiker gegen Kaiser oder Papst 
donnern — über konkrete gravamina ging er doch 
selten hinaus, und wenn er es einmal tat, so wurde 
er eventuell gehenkt oder verbrannt, aber weiter 
kümmerte man sich nicht um ihn und seine Lehre. 
Es gab ja keine neugierige und unruhige intellektuelle 
Klasse, die sein Resonanzboden hätte werden können, 
die nach Grundsätzen geforscht und jede Bewegung 
fortgepflanzt hätte. Im wesentlichen war das geistige 
Leben beherrscht durch Theologie und Jurisprudenz 
— der Kleriker und der Jurist, das waren die ein 
zigen Typen von, wenn man so sagen darf, Berufs 
gelehrten oder überhaupt von „Gebildeten“, und 
beide waren einig in souveräner Verachtung des pro- y 
fanum vulgus. Innerhalb von Theologie und Juris 
prudenz entwickelte sich der Wissensvorrat der Zeit,
	        
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