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in der Sprache früherer Zeiten zu sagen pflegten: „Sie
sind nicht Menschenwerk, sondern Gotteswille.“
Wer heute eine große gotische Kathedrale in ihrer end
gültigen Gestalt betrachtet, glaubt darin die Verkörperung
des Traumes eines einzigen genialen Menschengeistes zu
sehen. Tatsächlich aber war die Entstehung eine ganz andere.
Jahrhunderte lagen zwischen der Zeit, in der der Grundstein
gelegt, und jener, in der der letzte Spitzturm oder die letzte
Zinne gebildet ward. Und die Hand, die den Grundstein
legte, war niemals dieselbe, die den Schlußstein aufsetzte.
Generationen folgten oft aufeinander, arbeiteten an den
Wasserspeiern, den Rosenfenstern, den Helmen und star
ben und hinterließen ihr Werk andern; der Meister, der
die ersten rohen Umrisse zeichnete, ging dahin und ihm
folgten andere, und die Einzelheiten des vollendeten Wer
kes hatten oft nur eine blasse Ähnlichkeit mit seinem Ent
wurf ; keiner verstand ganz, was die andern geschaffen oder
schufen, aber jeder arbeitete an seinem Platz, und das voll
endete Werk war eine Einheit; es drückte nicht die Wünsche
und Bedürfnisse eines einzelnen aus, sondern den Geist je
ner Zeit. Und für den Bestand des Gebäudes war die Ar
beit des Steinmetzen, der sein Leben lang hingebend an
den Wasserspeiern und Fensterrosetten meißelte, nicht
weniger von Wichtigkeit, als die des größten Meisters,
der den Plan schuf. Und vielleicht war jener noch der he
roischere; denn für den Meister, der, wenn auch nur un
klar, ein Bild dessen vor Augen hatte, was das Werk be
deuten würde, wenn der letzte Stein daran gefügt und die
letzte Spitzsäule aufgerichtet sein würde, war es leicht, mit
Hingabe und Eifer zu arbeiten, wenn er auch wußte, daß
nicht er es sein werde, der diesen letzten Stein fügen und
diese letzte Spitzsäule aufrichten, und daß er den Bau in
seiner vollen Schönheit und Größe niemals sehen werde;
aber für den Tagelöhner, der seine Pflicht tat und Monat
auf Monat an seinem kleinen Wasserspeier oder an dem