Die Arbeiterfrage in England.
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lohnfestsetzungen brachte. Dieses Gesetz erstreckt sich zunächst
auf die Konfektionsindustrie, die Herstellung von Schachteln, von
Maschinenspitzen und Gardinen und von handgehämmerten Ketten,
sie soll aber demnächst auf andere Gewerbe mit ähnlichen Ver
hältnissen ausgedehnt werden.
Handelt es sich in diesem Gesetz vor allem um den Schutz der
Schwachen, die sich selbst nicht helfen können, so ist von ganz
anderer prinzipieller Bedeutung die letzte gesetzgeberische Maß-
nahmee auf diesem Gebiete, der Coal Mines (Minimum Wage) Act
von 1912. Das Gesetz ist lediglich zustande gekommen durch den
Druck der Arbeiterschaft des gesamten Kohlenbergbaus, die durch
einen gemeinsamen Streik die Regierung in die Notwendigkeit ver
setzten, die Forderung eines Minimallohns, die von dem Unter
nehmertum abgelehnt wurde, auf gesetzlichem Wege zur Einführung
zu bringen, um so das Land vor einer Katastrophe größten Stiles
zu bewahren. Es ist das erstemal, daß eine so tief einschneidende
Gesetzgebung von der Arbeiterschaft, eigentlich mit dem Schwert
in der Hand, dem Parlament abgetrotzt worden ist. Das Gesetz
legt keine bestimmte Lohnsumme für alle Arbeiter ganz Englands
fest, sondern es bestimmt lediglich, daß in jedem der in Betracht
kommenden Kohlenförderungsdistrikte Großbritanniens ein Lohn
minimum auf Grund von Verhandlungen der Arbeiter und Unter
nehmer unter Beihilfe von Regierungsinstanzen gesetzt werden
soll.
Es bleibt allerdings fraglich, ob die geschilderten, ungemein weit
gehenden gesetzgeberischen Aktionen der liberalen Partei ausreichen
werden, um die Arbeiterschaft Englands zu bestimmen, sehr viel
einschneidendere, zum Teil rein sozialistisch-kommunalistische Forde
rungen fallen zu lassen. Es scheint beinahe, als ob die liberale Aktion
den richtigen Zeitpunkt versäumt habe, da augenscheinlich etwa
seit 1910/1911 eine vollkommene Veränderung in der innerlichen
Stellung der Arbeiterschaft zu dem gesamten Problem des Arbeits
rechts und des Arbeitslohnes eingetreten ist. Die Gründe hierfür
liegen vor allem in der relativ und absolut verschlechterten Lage
der Arbeiterschaft (stagnierender Geldlohn und steigende Lebens
haltungskosten gegenüber neuerdings wieder glänzender geschäft
licher Konjunktur und steigendem Reichtum der oberen Klassen,
mit entsprechender Entfaltung luxuriösen Lebens nach außen hin).