88 III. Teil. Italien.
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des Dekretes vom 30. April 1916 nicht getroffen wurden, also auch
noch ungehindert trotz des Dekrets hätten befördert werden müssen.
Es ist dies aber auch richtig, weil die Dekrete gemäß Art. 2 des codice
civile keine rückwirkende Kraft haben können.
Artikel 1 des Dekretes vom 30. April 1916 wurde aber auch
anders ausgelegt. Man sagte: er verbietet überhaupt die Beförderung
von Wertpapieren und Urkunden, die Bezug haben auf alle geschäft-
lichen Operationen, die gleichartig sind den Geschäften, die durch die
früheren Dekrete verboten sind, d.h. auf alle Geschäfte mit den An-
gehörigen der Staaten, die einer der Ententemächte feindlich gegenüber
stehen, gleichgültig in welche Zeit diese Geschäfte fallen.
Artikel 1 ist unklar gefaßt; daß das Dekret die größte Rechtsunsicherheit geschaffen
hatte, ist nicht zu bestreiten. Wie soll die Zensur aus einem Schreiben, einer Urkunde,
sofort entnehmen, ob sie sich auf diese oder jene Art geschäftlicher Operationen bezieht.
Wenn auch in einem Schreiben, in einer Urkunde, das Datum des Geschäftes angegeben
ist, so ist es doch für die Behörde jederzeit möglich, die Richtigkeit der Angabe zu
bestreiten.
Im Zweifel lehnte ein Italiener die Versendung und die Empfangnahme von
Wechseln, Fakturen, Aktien usw. eher ab, auch wenn sie sich auf frühere geschäft-
liche Operationen bezogen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, gestraft und einer
unpatriotischen Handlung bezichtigt zu werden.
Enthält dieses Dekret wörtlich auch kein allgemeines Zahlungsverbot, so wurde es
doch als solches aufgefaßt; jedenfalls wurde überall angenommen, daß es verboten ist,
Zahlung zu leisten, die während des Krieges zu gunsten von „Feinden“ über die Landes-
grenze hinausgeht, und als Feind wurde in Italien von der maßgebenden öffentlichen
Meinung, der sich alle unterwerfen müssen, auch der Deutsche betrachtet. Selbst
italienische Behörden waren — damals durchaus zu Unrecht — der Meinung, es
bestehe ein allgemeines Zahlungsverbot gegenüber Deutschen 1).
Auf Reklamation hat allerdings der italienische Minister des Äußeren erklärt, daß
das Dekret vom 30. April 1916 keineswegs als Zahlungsverbot gegenüber deutschen Gläu-
bigern aufzufassen sei. Die Verbote jenes Dekretes bezögen sich nur auf die Einstellung
des Postverkehrs zwischen den beiden Ländern, was natürlich ein Hindernis für die Zahlung
sein könne; andere Schwierigkeiten beständen aber nicht. Da diese Antwort der
Regierung nicht öffentlich bekannt War, So wurde trotz derselben von Beamten
und Publikum an der irrigen Ansicht fostgehalten, es bestehe ein allgemeines Zahlungs-
verbot ®). )
1) Der Verfasser, der sich für ein deutsches Hüttenwerk bei einem Schuldner in Mailand
im Monat Mai 1916 nach dem Schicksal eines größeren Konsignationswarenlagers er-
kundigte, wurde bei der Polizei denunziert. Der Vertreter der Präfektur erklärte, eine
solche Nachfrage und der Versuch, Geld für eine deutsche Firma einzukassieren, bedeute
eine Übertretung des bestehenden Zahlungsverbotes. Ein unschuldiger schweizerischer
Advokat, der zur Kriegszeit für die Wahrung deutscher Privatrechte eintreten Wollte,
lief also Gefahr, als Verbrecher in Handschellen gesteckt und eingesperrt zu werden,
während der pflichtvergessene Schuldner sich seiner patriotischen Tat brüstete, und dies
trotz der schönen italienisch-deutschen » Verständigung“ vom 21. Mai 1915, die damals
noch als geltend angenommen werden mußte. Seither ist allerdings das Einziehen von
Gelder für deutsche Gläubiger verboten worden. Siehe unten Seite 107.
?) Diese Antwort erfolgte im Falle einer Zahlungsweigerung des Credito Italiano von
Turin, der sich hierauf berief, daß das Dekret vom 30. April 1916 jede Zahlung an deutsche