Full text: Neuzeitliche Krüppelfürsorge

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Verhältnissen lebt, weil er auf dem Lande wohnt, wo ihm die erforder- 
liche Behandlung, Beschulung, Berufsbildung nicht zuteil werden kann; 
während ein anderer Krüppel, der vielleicht ein an sich viel schwereres 
Leiden hat, mit viel erheblicherer Behinderung noch ambulant versorgt 
werden kann, weil er nahe der Fürsorgestelle in einer Stadt wohnt, 
wo ihm die Behandlung bequem zuteil werden kann, weil sein Vater 
in der Lage ist, für ihn gewisse Aufwendungen zu machen usw. Viel- 
leicht gelingt es demn einen oder dem andern Krüppel, durch persön- 
liche Beziehungen eine Lehrstelle zu finden, wo er in einem Berufe 
ausgebildet werden kann, so daß er die öffentliche Fürsorge in dieser 
Hinsicht nicht in Anspruch zu nehmen braucht. Der Begriff der Heim- 
bedürftigkeit schwankt also von Fall zu Fall, wie der Begriff des 
Krüppels überhaupt kein feststehender ist; es muß von Fall zu Fall 
Jenau überlegt werden, ob dieser Krüppel heimbedürftig ist oder nicht. 
Nicht der Fall von der und der Krantheit soll ja versorgt werden, 
sondern ein lebender Mensch, der hier noch weniger als sonst eine 
Nummer sein darf. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß ein 
Krüppelheim durchaus nicht (wie dies leider heute von mancher Seite 
noch geschieht) mit einem Siechenhaus verwechselt werden darf. Der 
Ausdruck „Heim“ könnte eventuell dazu verführen. Im modernen 
Krüppelheim werden die Krüppel durch die Vielheit der dort vor- 
handenen Einrichtungen (worauf an dieser Stelle nicht näher einge- 
Jangen werden kann) zur Erwerbsfähigkeit gebracht, und nur eine 
kleine Anzahl der schwersten Fälle befindet sich in der dem Heim an- 
Jeschlossenen Siechenabteilung. Aber auch von diesen können eventuell 
noch einige in Zukunft bis zu einem gewissen Grade arbeits- und 
?rwerbsfähig gemacht werden, da ja die ärztliche und pädagogische 
Vissenschaft weiter fortschreitet und ständig neue Behandlungs- und 
Ausbildungsmöglichkeiten erschließt. Der Begriff „Siecher“ isst eben 
Jenau so relativ wie der Begriff „Krüppel“ selber. Zwar wird diese 
Arbeitsbefähigung der „Siechen“ nicht dazu ausreichen, sie auf dem 
Algemeinen Arbeitsmarkte erwerbsfähig zu machen, wie es das 
Krüppelfürsorgegesetz für die Krüppel im Auge hat, sondern es wird 
sich bei ihnen wohl nur um die „Arbeitsfähigkeit“ in „produktiven 
Siechenanstalten“ handeln. Auch dies wäre schon ein Gewinn, wenn 
sie dort einen Teil ihres Lebensunterhaltes verdienen können und 
penn felber das Bewußtsein haben, sie sind doch zu etwas nütze auf 
er Welt. 
. Die Anstaltsversorgung der Krüppel liegt in Preußen in den 
Händen der Landesfürsorgeverbände. Diese müssen sich durch ihren 
Vertrauensarzt, den Landeskrüppelarzt, aus der Zahl der von den 
Bezirksfürsorgeverbänden gemeldeten Krüppel diejenigen heraus- 
Iuchen, bei denen Anfstaltspflege erforderlich ist. Sie haben natürlich
	        
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