Full text: Die russische Weltanschauung

„O wehe, weh, es legt sich dichter Schatten 
Im Westenland, im Land der heil’'gen Wunder.“ 
Fragen wir aber, worin eigentlich die Verwandtschaft beider Kul- 
turgeister liegt, so können wir sie, in Übereinstimmung mit allem vor- 
her Gesagten, nur im Gebiete des religiös-metaphysischen erblicken. 
Und hier möchte ich meine persönliche Überzeugung aussprechen, daß 
eben dadurch eine ganz besonders tiefe Verwandtschaftsbeziehung 
zwischen dem deutschen und dem russischen Geiste statuiert wird. 
Denn das im Westen, wozu der russische Geist in einem wirklichen Ge- 
gensatze steht und wogegen er sich ständig sträubt, ist eigentlich der 
romanische Geist der individualistischen Zersplitterung und rationa- 
listischen Starrheit des Lebens. Zwar habe ich selber vorher zu zeigen 
gesucht, daß der deutsche Idealismus, in dem man die einzige national- 
deutsche Weltanschauung zu erblicken pflegt, dem russischen Geiste 
offensichtlich nicht zusagt. Nehmen wir aber denselben deutschen 
Idealismus nicht in der eigentümlichen Gestalt, die durch Kants Geist 
oder vielleicht durch den Geist der neueren europäischen Weltan- 
schauung beeinflußt ist — nehmen wir ihn in weiterer historischer 
Perspektive als das, was er wirklich ist, nämlich als eine historisch 
bedingte Abzweigung und eigentümliche Äußerung der deutschen 
Mystik — stellen wir ihn in eine kontinuierliche Linie mit der großen 
Geistesentwicklungsreihe, die von Meister Ekkehard, Nikolaus von 
Cues, „der deutschen Theologie“ durch Sebastian Frank, Jacob Boeh- 
me und Angelus Silesius bis zu Baader, Schelling und Hegel, bis zu 
Schiller, Novalis und Goethe führt, — so wird das Verhältnis ein 
ganz anderes. Von allen Einflüssen, die das russische Denken erfahren 
hat, hat nichts eine so große, tiefe und fruchtbare Wirkung auf den 
russischen Geist gehabt, als die deutsche Mystik, Metaphysik und die 
philosophische Poesie. Ich lasse schon die vielen russischen Hegelianer 
und Schellingianer außer Betracht, weil man hier sagen könnte, daß 
die Einwirkung oft eine ziemlich äußere und zufällige war. Mehr 
aber, als eine äußere und zufällige Einwirkung ist es, wenn z.B. 
Jakob Boehmes „Aurora“ in gewissen russischen mystischen Volks- 
sekten als eine heilige Schrift verehrt und studiert wird, oder wenn 
die Lyrik des schon erwähnten russischen Dichters Tjutschew als eine 
dichterische Transponierung der Boehme’schen Theosophie gelten darf. 
Nicht zufällig ist es auch, wenn Dostojewski seine tiefsinnigsten reli- 
giösen Gedanken in der Rede von Iwan Karamasow an Schillers 
Oden anknüpft. Und man kann schon von keiner Einwirkung über- 
haupt reden, wenn man sich der schon erwähnten mehrfachen merk- 
würdigen Antizipationen von Nietzsches Gedanken in der russischen 
Literatur erinnert. Das religiöse Wesen des russischen Geistes spürt 
sozusagen unmittelbar seine Wahlverwandtschaft mit dem philoso- 
phischen Wesen des deutschen Geistes. 
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