Zur Frage der Listschen Preisschriften.
(Aus unveröffentlichten Briefen Friedrich Lists.) en
Von Edgar Salin
Dr. phil., Professor der. Staatswissenschaften an
der Universität Heidelbere.
M ehr als fünfundsiebzig Jahre mußten verstreichen, ehe deutsche
Gelehrte dem Werk ihres größten Ökonomen genug Beachtung
schenkten, um seinen mehrfachen Andeutungen nachzugehen und nach
jener Preisschrift zu forschen, die er zu Ende des Jahres 1837 ge-
schrieben und der Pariser Akademie eingereicht hat. Als der Neu-
entdecker und Bearbeiter dieses wichtigen Werkes, Dr. Sommer, dar-
an ging, die Geschichte seiner Abfassung, seiner Verborgenheit und
seiner Wiederauffindung zu schreiben!, ist es seiner gründlichen
Untersuchung aller Spuren und Erwähnungen aufgefallen, daß
Häusser? in seiner Biographie Lists von „zw e i nationalökonomischen
Preisaufgaben der Akademie‘ und an anderer Stelle von der Voll-
endung „beider“ Arbeiten spricht. Sommer nimmt mit hoher Wahr-
scheinlichkeit an, daß Häusser keinerlei Nachforschungen angestellt
hat und sein Wissen nur einem Briefe Lists an seine Gattin vom 1ı.
Januar 1838 entnimmt, den der Biograph auszugsweise zum Abdruck
bringt. In diesem Auszug steht von Lists Hoffnung „wenigstens einen
Preis zu bekommen“ und werden „meine Abhandlungen“; also der
Plural, genannt. Andrerseits enthält der Eingang des Häusserschen
Auszugs die Bemerkung Lists: „ich bin nämlich mit meiner Arbeit
fertig“ und wird in Häussers, von Lists Familie und Freunden unter-
stützter Lebensbeschreibung eine zweite Preisarbeit nirgends mehr er-
wähnt. Auf der Grundlage dieses geringfügigen und ungewichtigen
Materials mußte zwar weiterhin mit der Möglichkeit gerechnet wer-
den, daß außer der bereits gefundenen Arbeit noch eine zweite Preis-
schrift‘ Lists in den Archiven des Institut de France verborgen ist;
aber schon die äußere Arbeitsleistung Lists bei Fertigstellung des
einen Werkes von mehr als 300 Folioseiten in einer Spanne von sechs
Wochen ist so außerordentlich, daß man kaum noch eine zweite
Schrift als Frucht des gleichen Zeitraums tatsächlich erwarten durfte.
Wenn Dr. Sommer „dem Glück und der Zukunft‘ die Aufklärung
dieser Frage überlassen mußte, so war klar, daß überhaupt nur zwei
Lösungswege denkbar waren. Der eine Weg hieß Nachforschung in
den Akten des Instituts: sie hat stattgefunden, ohne daß bisher eine
zweite Schrift Lists zutage gekommen wäre; doch enthielt auch die-
ses negative Ergebnis so lange keinen schlüssigen Beweis, als es nicht
gelang, eine bekanntermaßen damals in den üblichen Formen (also
anonym, nur mit Motto) tatsächlich eingereichte, doch nicht preis-
gekrönte Lösung aus den Kisten der Akademie auszugraben und als
Werk eines anderen Autors zu enthüllen. Unter diesen Umständen
mußte alle Hoffnung auf den zweiten Weg gesetzt werden: daß es
neues Material beizuschaffen gelang, mit dessen Hilfe eine eindeutige
Entscheidung zu fällen war.