Full text: Sozialpolitik in Österreich 1919 bis 1923

möglich, die Sozialpolitik auszubauen. Die Gewerkschaften 
und die Partei nahmen während dieser Zeit einen raschen 
Aufschwung, das Bürgertum zitterte vor dem organisierten 
Proletariat, und es gelang uns damals, Forderungen durch— 
zusetzen, die heute nicht in die Tat umgesetzt werden könnten. 
Ein führender Genosse des Auslandes, den ich einmal fragte, 
warum ähnliche Gesetze nicht auch im Ausland geschaffen 
wurden, erwiderte mir: Wir machen keine Konjunkturgesetze. 
Ich will nicht untersuchen, ob dieser Satz richtig ist. Das 
eine aber ist sicher: Ebenso wie ein Geschäftsmann, der die 
Konjunktur nicht auszunützen versteht, kein guter Geschäfts— 
mann ist, so wäre guch der kein guter Sozialpolitiker, der es 
nicht verstünde, Machtverhältnisse zum Vorteil der Arbeiter— 
klasse auszunützen. (Sehr richtigl) Vom gegenwärtigen Stand 
der Sozialpolitik will ich nicht sprechen. 
Seitdem die Sozialdemokraten aus der Regierung ge— 
schieden sind, ist auf sozialpolitischem Gebiet der alte öster— 
reichische Stillstand eingetreten. Seit dieser Zeit wurde nicht 
ein einziges Gesetz neu geschaffen, abgesehen von der Novelle 
zum Gesetz über die Gewerbeinspektion, die bei meinem 
Scheiden aus dem Amte fertig auf meinem Schreibtisch lag 
und nur deswegen nicht eingebracht wurde, weil sie mir nicht 
gut genug erschien. Man begnügte sich mit der Novellierung 
verschiedener Versicherungsgesetze, die sich durch die fort— 
schreitende Geldentwertung als unausweichlich erwies. 
Es gab noch keine Zeit, in der über die sozialpolitischen 
Lasten nicht gejammert wurde. Nicht nur die Unternehmer, son— 
dern auch die ganze bürgerliche Presse jammert, die Volkswirt— 
schaft könne sich nicht wieder erheben, die sozialen Lasten er— 
schlügen die Industrie. Auch die gegenwärtige Regierung hat sich 
diesen Standpunkt zu eigen gemacht, die Volkswirtschaft stehe an 
der Schneide, noch ein kleines Quentchen Belastung und sie 
gehe dem Untergang entgegen. 
Man hat ausgerechnet, daß die sogzialpolitischen Lasten 
22 Prozent ausmachen. Nun haben wir vor kurzem die Ab— 
haltung einer Sitzung im Ministerium für soziale Verwaltung 
verlangt, um für unsere so notleidende Industrie, die so 
schwere soziale Lasten zu tragen hat, die Herabsetzung des 
Zinsfußes für kurzfristige Kredite zu erreichen, und haben 
erwartet, daß die Industriellen die Gelegenheit mit Freude 
ergreifen und mit uns gegen die Banken vorgehen werden; 
aber die Herren vom Schwarzenbergplatz haben sich mit den
	        
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