Theoretische Vorfragen.
der absoluten amoralischen Bedingiheit gegebener naturwissen-
schaftlicher Gesetze, als „ewiger Ratschluß‘“ der Physis. Da-
gegen wäre einschränkend zweierlei zu bemerken. Einmal
würde die kriminalanthropologische Erklärung der Lombroso-
schule der moralstatistischen Betrachtungsweise zwar die
eigentliche Kriminalstatistik und die Prostituiertenstatistik ent-
winden, nicht aber die der unehelichen Natalität, von welcher,
soweit wir sehen können, auch von keinem Lombrosianischen
Epigonen je behauptet worden ist, daß sie in den Kreis der Ge-
burtsvorbedingtheit einbezogen werden müsse. Zweitens hat die
Lombrososchule eine schon durch den Mund ihres Meisters
selbst angezeigte und später in weitem Umfange durch seine
wichtigsten Anhänger, wie Enrico Ferri, Eugenio Florian, Raf-
faele Garofalo und andere, inzwischen ausgefüllte Lücke auf-
gewiesen, nämlich die ökonomisch-soziale. So daß die Synthese
der gereinigten Lehre etwa auf folgende Formel gebracht
werden konnte: Die Wirksamkeit der biologischen Prädispo-
sitionen zur Begehung von Verbrechen tritt nur in Kraft, imn-
soweit ihr durch günstige ökonomische und soziale Milieu-
erscheinungen nicht entgegengewirkt wird; d. h. das Ver-
brechen entsteht durch Verbrechergehirn und Elend. Das Vor-
handensein des ersteren allein ist nicht mehr ‚zwangsläufig‘
entscheidend?.
ad 2. Die von A. M. Guerry3 (seit 1833) entworfene ‚und
von Quetelet* (seit 1835) in Brüssel mit großem Gedanken-
reichtum weiterentwickelte Theorie des Durchschnittsmenschen
? Siehe mein Kapitel: Cesare Lombroso, in: Bedeutende Männer. Cha-
rakterologische Studien, Leipzig 1927, Quelle & Meyer, p. 71£f.
3 A. M. Guerry, Essai sur la Statistique morale de la France, Paris
1833; Ders., Statistique morale de l’Angleterre comparöe avec la Statis-
que morale de 1a France, 1. c.
* Adolphe Quetelet, Sur l’Homme et le Developpement de ses fa-
cultes, ou Essai de Physique sociale, Paris 1835; Ders., Du Systenfe
social et des Lois qui le regissent, Bruxelles 1848.