Full text: Zum Kampf um die wirtschaftliche Selbständigkeit des Klein- und Mittelbetriebes

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Die Dringlichkeitsfrage sozialer Aufgaben 
B ei politischen Gesprächen mit Arbeitern er 
hielt ich immer die Frage: „Was tut der 
Liberalismus für die arbeitenden Klassen, und 
was haben wir für die Zukunft zu erhoffen.“ 
Diese Fragen sind gewiss natürlich und die nächst- 
liegenden. Und doch ist es nicht so ein 
fach, sie zu beantworten. Ja selbst auf liberalen 
Versammlungen, in denen derartige Fragen ge 
stellt wurden, hörte ich fast immer wenig befrie 
digende Antworten. 
Die liberale, politische und Lebens-Auffassung 
ist weder an Berufsstellung gebunden, noch an 
Besitz oder Besitzlosigkeit. Es gibt daher weder 
einen besonderen Liberalismus für die arbeitenden 
Klassen, noch einen für die Reichen. Es gibt nur 
die eine freiheitliche Auffassung vom Recht jedes 
Menschen auf Freiheit, Gleichberechtigung und 
Glück, und die Pflicht, jedem Menschen zu helfen, 
dass er dahin gelange, wohin ihn seine besondere 
Veranlagung steuern will, soweit diese sich nicht 
gegen die allgemeinen menschlichen Interessen 
richtet. Freie Bahn für alle, die vorwärts wollen 
mit ehrlichen Mitteln, Wahrhaftigkeit, und im ehr 
lichen Kampfe. Es ist aber nun richtig, dass die 
Menschen sich in ganz verschiedenen Lagen 
befinden und eine schnellere Befreiung aus ihren 
Bedrängnissen für die einen dringlicher als für 
andere ist. Es ist richtig, dass die arbeitenden Klassen 
von vielen Nöten geplagt sind, die den Beamten, 
den selbständigen Mittelstand weniger hart 
treffen, obgleich diese wie jeder Stand seine 
Sorgen und Klagen hat. Deshalb ist es berechtigt, 
wenn der Arbeiter, der mit Not und Armut am 
häufigsten zu kämpfen hat, die erste Frage stellt; 
„Was tut ihr für die arbeitenden Klassen?“ Von 
allen Bedürfnissen ist das Stillen des Hungers das 
wichtigste, von allen Plagen sind die Arbeitslosig 
keit und das Wohnungselend die folgenschwersten. 
Die liberale Partei ist eine Gegenwartspartei. 
Sie vertröstet nicht auf die Zukunft. Sie ar 
beitet für den Fortschritt in der Gegenwart, weil 
die Entwicklung in der Zukunft garnicht ab 
geschätzt werden kann. Die Umwälzungen in 
einem Jahrzehnt durch die gewaltigen Fortschritte 
der Technik sind so bedeutend, dass jede Mög 
lichkeit fehlt, mit der Zukunft zu rechnen, zumal 
von Tag zu Tag mehr Menschen geistig schaffend 
und umwälzend arbeiten, und neue technischeund 
kulturelle Wege erschliessen helfen. 
Ein Staat von 65 Millionen Menschen kann sich 
nur in der Weise erneuern und umgestalten, dass 
er entsprechend der Dringlichkeit der Bedürfnisse 
Umbauten dort vornimmt, wo sie erforderlich 
werden. Das Problem der Arbeitslosigkeit ist 
sicher sehr erheblich dringender als z. B. der 
Kampf gegen Standesvorrechte. Es entsteht daher 
ganz natürlich die Frage in den arbeitenden 
Klassen: Wer hilft uns am schnellsten und wer 
bemüht sich am eifrigsten in der Sache? 
Und da gibt es für den Arbeiter meistens 
keinen Zweifel. 
Im bürgerlichen Liberalismus ist bei den ver 
schiedenartigen Berufsinteressen der Parteian 
hänger und ihrer ausgedehnten Teilnahme an den 
Tagesproblemen und und Anregungen der Zeit 
die Durchführung politischer Agitation erheblich 
erschwert. Der bürgerliche Mittelstand hat 
viele andere Ablenkungen von der täglichen 
Berufsarbeit und von zahlreichen eignen Sorgen, 
um in seinen freien Stunden an nichts anderes 
zu denken, als an die Not seiner Mitmenschen. 
Anders ist es aber bei denjenigen, denen die Not 
auf den Fingernägeln brennt. 
Auf kirchlichem Gebiet ist es das gleiche. Auch 
hier gibt es einen Liberalismus, der bedeutender 
und verbreiteter ist, als man allgemeinhin an 
nimmt. Aber es fehlt das Erkennen der Dring 
lichkeit, es fehlt die grosse Leidenschaft. In 
Landesteilen, in denen die freiheitliche Auffassung 
eine stärkere Bedrückung erfährt, erwacht unter 
dem Druck der Not die Erkenntnis der Dring 
lichkeit, der Strom staut sich und beginnt beim 
Hindernis zu brausen, während man vorher über 
haupt nicht hörte, dass er da war. Der Arbeiter 
braucht täglich Arbeit, er zählt die Stunden, die 
ihn aus der bedrückenden Schlafstelle erlösen 
werden, die seine Kinder von mörderischen 
Krankheiten der Unterernährung befreien, und 
die ihm dann ein freies Wahlrecht und die 
Mitarbeit an der Gestaltung seiner Lebens 
bedingungen und Mitverantwortlichkeit bringen 
werden. 
Er wendet sich an die Sozialdemokratie, die 
keine halbe Arbeit, sondern ganze Arbeit tun will, 
die das Messer an das Geschwür setzen will, statt 
mit Pflastern eine Heilung zu versuchen; er be 
rauscht sich an dem Gedanken, dass die Ent 
eignung des Besitzes kommen wird, und damit 
die schweren Ungerechtigkeiten verschwinden 
werden, unter denen er leidet. 
Pfarrer Traub sagte auf dem letzten Pro 
testantentag: „Jesus wollte garnichts von Qlaubens- 
vorstellungen wissen, er wollte einen Willen, den 
Willen zu helfen." Und Gastrow-Hamburgsagte: 
„Es gibt keine Norm des reinen Christentums. 
Die Wahrheit liegt im Wahrheit suchen.“ 
Ob die grossen sozialen Probleme auf dem 
Boden des freien Wettbewerbes, des freien Spiels 
wirtschaftlicher Kräfte, oder durch eine Weiter 
entwicklung der bereits recht zahlreichen Ver 
staatlichungen und Verstadtlichungen gelöst 
werden, ist völlig belanglos. Es fehlt uns jede 
Möglichkeit, die zukünftige Entwicklung abzu 
schätzen und uns auf ein bestimmtes Verfahren, 
wie z. B. die Enteignung der Besitzenden festzu 
legen. Aber was wir von einer politischen Partei
	        
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