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Voraussetzung der Gleichheit ist ein Zustand, der die Entfaltung, das
Aussich heraustreten der Persönlichkeit ermöglicht. Die Gleichheit ist
nur eine Seite der Freiheit. Sie bedeutet die Freiheit, unter Bedingungen
mit anderen zu schaffen, die die Interessenverschiedenheiten aussöhnen.
Deshalb ist sie weder mit der vernunftgemäßen Ungleichheit des Al
ters, der Mutterschaft, der Verschiedenheit in den Funktionen, der
Tüchtigkeit, noch mit jener formalen Ungleichheit unvereinbar, die
aus Huldigungsakten entsteht. Unverträglich ist sie nur mit einer
Unterordnung, die die Vernunft nicht anerkennt. Deshalb wechselt
ihre Bedeutung mit Rücksicht auf die wirkliche Erfahrung unaufhör
lich, weil sich der Daseinsgrund eines jeden Systems von Beziehungen
fortgesetzt verändert.
Andererseits kann formale Gleichheit mit tatsächlicher Ungleichheit
Zusammengehen. Nominell liegt den Leuten, die sich aus den Reihen
der Armee erheben — und einigen ist es gelungen —, kein Hindernis
im Wege. Doch sündigt der arme Mann mit dem Reichen, so wird
jenem nicht vergeben, während diesem verziehen wird, welche Ent
deckung einst ein unglücklicher General machte.
Der Sozialismus sichert also das Ideal der Gleichheit, indem er das
Individuum in den Stand setzt, in dem sozialen Organismus in einer
Weise mitzuwirken, die ihm als einem Teile und der Gesellschaft als
einem Ganzen am besten angemessen ist.
Doch um von dem anderen Ideale zu reden: wo ist denn unter dem
industriellen Konkurrenzsystem die Brüderlichkeit gewesen oder wie
konnte dort von ihr die Rede sein? Der Wunsch nach Brüderlich
keit hat dem Leben vorgeschwebt, wie eine Vision von dem „Höch
sten, das für die Erde zu hoch ist". Denn die Brüderlichkeit bedeutet
etwas mehr als Sympathie und ähnliche Tugenden, ohne die das Da
sein der Gesellschaft nicht möglich gewesen wäre und ohne die sie auf
einem sittlichen Pfade nicht hätte fortschreiten können. Die Sym
pathie ist ein Strom, der sich aus dem menschlichen Herzen ergießt,
wenn es leidet oder liebt oder Mitleid empfindet. Die Brüderlichkeit
ist aber ein soziales Band, das die Menschen selbst dann verknüpft,
wenn die Sympathie nicht in Aktion tritt, ein Band, das die Menschen
in ihrem Streben zu einem gemeinsamen Ziele verbindet und die Be
dingungen erzeugt, wo das „einer für alle und alle für einen“ gilt.
Die französische Revolution brachte dies nicht zustande. Der Maien