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dem fehlt jegliche genügende Gewalt, dem Lande Gesetze zu geben 1 .
Dies bewahrheitet sich besonders in Ländern wie Großbritannien, wo
keine geschriebene Verfassung die Geltendmachung der öffentlichen
Meinung hindert. Die öffentliche Meinung ist überall dort am ein
flußreichsten, wo keine Verfassungsurkunden und kodifizierte Gesetze
vorhanden sind, wo sich keine Pläne zur gewaltsamen Veränderung
der bestehenden Ordnung der Dinge bilden und wo keine Gefahren,
wie Sturz von Dynastien (Spanien) und Regierungsformen (Frank
reich), drohen. Es kann nicht ausdrücklich genug betont werden, daß
sich eine demokratische Regierung auf die öffentliche Meinung stützen
muß, die ihrerseits wiederum weder die Meinung einer Partei noch
einer Koterie ist. Ja wir können selbst noch weiter gehen und mit
Hume behaupten, daß ungeachtet der Regierungsform nur die öffent
liche Meinung der Träger der Regierung ist, und diese Maxime ließe
sich sowohl auf die ausgesprochen despotisch und militaristisch ver
walteten Staaten als auch auf die freiesten und volkstümlichsten
staatlichen Gemeinwesen ausdehnen 2 . Zwar leidet dieser Satz an Un
bestimmtheit, weil nur diejenige öffentliche Meinung wirklich befiehlt,
die Macht hinter sich hat, aber klar und durchsichtig ist immerhin
das Gesetz der Staatsleitung. Die Könige müssen das Volk über
zeugen, daß sie mit einem göttlichen Herrscherrechte ausgestattet
sind oder müssen es den Parlamenten überlassen, statt ihrer die Re
gierungsgeschäfte zu führen; eine regierende Klasse muß entweder die
ihr politisch Unterworfenen auf eine Stufe geduldigen Ertragens herab
drücken — in welchem Falle sie dann doch unter allgemeiner, wenn
auch noch so mürrisch oder in einfältiger Weise gegebener Zustimmung
die Gewalt handhabt — oder ihnen einreden, daß sie aus dem einen
oder anderen Grunde in dem Genuß ihrer politischen Vorrechte bleiben
1 Um es deutlicher auszudrücken, so ist die öffentliche Meinung, die sich den
Beschlüssen fügt, mit der öffentlichen Meinung identisch, die die Macht hat — den
Befehl über die nötige bewaffnete oder politische Gewalt —, ihre abweichende
Ansicht geltend zu machen. Der eine Staat wird manchmal von einem anderen
annektiert, wie wir Transvaal an uns rissen. In diesem Falle schafft die Gewalt
allein den vereinigten Staat. Doch selbst unter solchen Umständen, wie es die
augenblickliche Lage von Transvaal veranschaulicht, sucht das Band der öffent
lichen Meinung und der öffentlichen Zustimmung den Platz der Gewalt einzu
nehmen. Ein ebenso auffallendes Beispiel derselben Art bietet Quebec. Die durch
eine bestimmte Nationalität vollzogene Assimilation von anderen Nationalitäten,
wovon die Vereinigten Staaten ein wunderbares Beispiel sind, bildet ein faszinie
rendes Studium, das aber kaum die ihm zukommende Würdigung gefunden hat.
2 Essay über The First Principles of Government.