9
3. Größe des Krieges.
Wir dürfen aber bei den bisherigen Unter
schieden nicht stehen bleiben.
Wesentlich ist es auch, welche Ausdeh
nung ein Krieg erlangt. Ein Weltkrieg unter
scheidet sich von einem Krieg zwischen zwei
oder drei Staaten wesentlich. Er ist nicht
nur quantitativ, sondern auch qualitativ etwas
Anderes. Ich weise nur auf den Umstand hin, daß
in einem Weltkrieg keine Neutralen vorhanden
sind, die Geld, Lebensmittel usw. zur Verfügung
stellen können. Aeußere Anleihen gibt es dann
eigentlich nicht, da die Anleihen, die im Gebiet
der verbündeten Staaten aufgenommen werden,
wie innere Anleihen zu beurteilen sind. Die Wir
kungen eines Weltkrieges lassen sich daher nicht
aus den Wirkungen der kleineren Kriege in der
Weise ableiten, daß man dieselben einfach multi
pliziert. Die Kriege der letzten
hundert Jahre waren kleine Kriege,
ja sie wurden zu einem erheblichen Teil am
Rande der beteiligten Gebiete oder sogar in
Kolonialländern geführt. Ich erinnere nur an den
russisch-japanischen, an den amerikanisch-spani
schen Krieg.
Der letzte Weltkrieg fand gerade vor 100
Jahren statt. Wenn wir überhaupt empirische
Beispiele für die Erörterung des Weltkrieges be
nötigen, müssen wir auf die napoleonischen
Kriege zurückgreifen. Sie werden uns immer
viel Lehrreiches bieten, wenn sich auch freilich
die gesamte gesellschaftliche Organisation seit
jenen Tagen sehr erheblich verändert hat. Aber
jene Kriege geben uns wenigstens die Möglich
keit, großzügige Maßnahmen, wie die Kontinental
sperre kennen zu lernen und unsere Vorstellungen
zu weiten. Denn, um den Weltkrieg der Zukunft
sich einigermaßen ausmalen zu können, haben
wir eine etwas gigantische Phantasie nötig. Welche
Momente dabei in Betracht zu ziehen sind,
werden wir noch mehr als einmal zu besprechen
haben.
III. Das Problem der Reserven.
Die bisherigen Betrachtungen haben uns be
reits gezeigt, daß der Krieg in sehr verschiedener
Weise die zu seiner Führung erforderlichen Kräfte
der Gesellschaft entnimmt.
Es gibt grundsätzlich verschiedene Methoden,
die für den Krieg nötigen Kräfte bereit zu halten.
Wir wollen auf die wichtigsten derselben hin-
weisen: Es kann zunächst die Schaffung von
Kriegerischen Kräften erst im Augen
blicke des Krieges erfolgen. Die im
Brieden tätigen Kräfte werden in kriegerisch ver
wendbare umgewandelt. Der Arm, der sonst den
Speer zur Jagd benützt, wendet ihn nun gegen
den Feind. Es können aber auch Kriegsmittel
w ährend des Friedens bereits vorbe-
reitet werden, schließlich können im Kriege Kräfte
zur Verwendung kommen, die auch während
des Friedens nicht verwendet
* u r d e n, weder für kriegerische
noch für friedliche Zwecke. Es sind
dies natürlich nur extreme Typen; meist werden
die einzelnen Möglichkeiten miteinander, kombiniert
Vorkommen.
Daß Kräfte, die der Krieg benötigt, im Frieden
auch verwendet werden, ist nichts Seltenes. An
nähernd reine Fälle dieser Art sind freilich selten.
Das Tiroler Aufgebot von 1809 gehörte z. B. we
sentlich zur ersten Gruppe. Es bestand zum ge
ringsten Teil aus militärisch vorgebildeten Kräften,
auch die Waffen waren überwiegend auch im
Frieden verwendbar. Sensen, Heugabeln, Jagd
gewehre spielten eine wichtige Rolle. Aehnlich
organisiert sind die Milizen primitiver Staaten.
So unterscheidet sich z. B. das albanische Kriegs
aufgebot wenig von der Gesamtheit der waffen
fähigen Albaner im Frieden.
Sehr wichtig sind jene Fälle, in denen die
Ausbildung bestimmter Fähigkeiten sowohl
für den Krieg als auch für den
Frieden von Nutzen ist. Hieher gehören, alle
Bemühungen, die Jugend in großem Stil im Sport
auszubilden, im Skifahren, Schwimmen usw., die
unter anderem auch die Jugend weh rbewegung
gezeitigt haben. Eine kräftige Jugend ist leistungs
fähiger in der Industrie, in der Landwirtschaft,
aber ebenso auch in der Armee. Es wäre für
die sozialwissenschaftliche Forschung,
aber auch für die Praxis von erheb
licher Wichtigkeit, wenn man einmal
systematisch zusammenstellen würde,
in welchen Fällen die Interessen der
Armee mit jenen der übrigen Bürger
schaft zusammenfallen, soweit die
Ausbildung derverschiedensten Fähig
keiten in Frage steht.
Derartige Interessengemeinschaft beschränkt
sich aber nicht etwa auf die sportliche Ausbildung,
wir treffen sie, wie wir schon oben bei Erörterung
der Güterausnützung andeuteten, auch sonst an.
Es ist z. B. für eine Kriegsmarine äußerst wichtig,
eine möglichst große Handelsmarine zu haben,
um auf diese Weise zu gut vorgebildeten Matrosen
zu kommen. Die Tätigkeit eines Matrosen kann
nicht rasch gelernt werden. Geldmittel reichen
nicht hin, um eine starke Flotte zu schaffen. Es
ist ja bekannt, wie sehr die Türken darunter
leiden, daß sie nicht genügend viel vorgebildete
Matrosen haben. Dies hängt damit zusammen,
daß die Handelsschiffahrt vorwiegend in Händen
der Grichen ruht. In diesem Sinne ist auch die
Bemerkung Trubetzkois aufzufassen dessen Stimme
insoferne Anspruch auf Gehör hat, als er eine
hervorragende Stellung in der äußeren Politik ein
nimmt*.
«Als reale Macht wird Amerika noch lange
nicht in der Lage sein, sich mit Japan zu
messen. Mögen in der Neuen Welt ungeheure
Mittel auf den Flottenbau verwendet werden, aber
Geld allein reicht nicht aus, um eine entspre
* G. Trubetzkoi. Rußland als Großmacht. Stuttgart
und Berlin. 1913, S. 73.