— 27 —
Der erste wissenschaftliche Anarchist, der dürch seine Lehren Beachtung
und Einfluß auf die Tagesmeinungen und die Wissenschaft gewann, -war der
als Sohn armer Bauern 1809 in Befancon geborene Pi I. Proudhon, ge
storben 1865 in Paris. In seiner von der Akademie zu Befancon preis
gekrönten Schrift „Ou'est cs gus la propriets?" (Was ist das Eigentum?)
scheint er sich auf Grund der von ihm auf diese Frage erteilten Antwort
„La propriete c’est le vol“ (das Eigentum ist der Diebstahl) als ganz er
bitterter Gegner eines jeden menschlichen Privateigentums W bekennen.
Aber in Wahrheit vertritt er keineswegs diesen extremen Standpunkt, viel
mehr will er ganz im Gegenteil unter möglichst restloser Ausmerzung all
der zahlreichen heutigen Ungerechtigkeiten der Wirtschaftsordnung mög
lichst alle Menschen zu Privateigentümern machen. Denn der Begriff der
sozialen Gerechtigkeit bildet für Proudhon den Ausgangspunkt und die
Grundlage seiner gesamten Rechts- und Sozialphilosophie, nur von ihr aus
gehend gelangt er zum Anarchismus. Man steht: seine Lehre bildet den
denkbar schärfsten Gegensatz zum historischen Materialismus eines Karl
Marx und Friedrich Engels, denen alle Eerechtigkeitsgedanken in ihrer So
zialphilosophie völlig fremd sind und nur höchst abwegig erscheinen, weil
sie eben die ganze gesellschaftliche und kulturelle Entwickelung der Mensch
heit als von blinden, ehernen, unerbittlichen Naturgesetzen beherrscht sein
lassen. Auf das Schärfste bekämpft ihn daher Marx in seinem „Wsere äs In
Philosophie“ (Elend der Philosophie). Im gemünzten Gelde und im Zinse
erblickt Proudhon die wirtschaftlichen Hauptgeiseln der Menschheit und
den Keim alles volkswirtschaftlichen Uebels. Nach ihrer schonungslosen
Ausrottung wird sowohl die wirtschaftliche Ausbeutung und Unfreiheit wie
auch die politische Abhängigkeit vollkommen aufhören. Nach ihrer Beseiti
gung könne im übrigen die freie privatwirtschaftliche Produktionsweise
durchaus beibehalten werden, das Privateigentum könne dann von seinen
Auswüchsen gereinigt als gerechte Grundlage der Wirtschaftsverfassung voll
bestehen bleiben. Durch seine sogen. „Tauschbank" hoffte er diese seine beiden
großen Ziele verwirklichen zu können. Jeder Produzent sollte bei ihr seine
Erzeugnisse gegen Empfang eines entsprechenden Tauschbons abliefern kön
nen und gegen Abgabe dieses Bons andere Gegenstände, deren er gerade
bedurfte, zum gleichen Wert eintauschen. Bei der Festsetzung der Werte
sollten lediglich die auf die Herstellung der Erzeugnisse verwandten Ar
beitsleistungen und Auslagen ber'echnet werden, jeder Gewinn »aber weg
fallen. Die Preise sollten durch Taxatoren der Bank kontrolliert werden.
So würde der drückende und ungerechte Profit des Zwischenhandels ganz
wegfallen, ebenso aber auch die Unentgeltlichkeit des Kredits erreicht wer
den und auf diese Welse allmählich der Kapitalzins ganz in Wegfall kom
men. „Auf diese Weise wäre jedem Produzenten ein Recht auf Absatz seiner
Produkte und ein Recht auf Kredit garantiert; von der Tyrannei des Gel
des und des Kapitals befreit, fei dann der Zeitpunkt für die Menschheit
gekommen, sich auch von der Tyrannei aller Regierungsformen und aller
Gesetze zu entledigen." (Diehl a. a. O. S. 107.) An Stelle aller Gesetze
sollen dann freie Verträge treten. „Der Vertrag an Stelle der Herr
schaft der Gesetze würde die wahre Regierung des Bürgers und des Men
schen begründen, die währe Soüveränität des Volkes, die wahre Revo