Object: Frédéric Le Play in seiner Bedeutung für die Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Methode

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zu erweitern und die Einflüsse seiner Erziehung abzustreifen, teils 
durch erneute Beobachtung, teils durch verschärfte Kontrolle der 
verdächtigen Schlüsse; doch ist ihm das nur unvollkommen ge 
lungen. 
Die reformatorische Absicht Le Play’s war ein wesent 
liches Hindernis für die Objektivität seiner Erkenntnis. Sie ist ja 
doch der Endzweck seiner Untersuchungen. Sie zeigt sich in dem 
oft erwähnten Gelübde des Jahres 1830, in seinen Veröffentlichungen 
und Gründungen, wie in seinen Gesetzes-Vorschlägen. Dabei war 
von besonderer Bedeutung, daß Le Play bestimmte gesetzliche Ein 
richtungen Frankreichs, die aus der Zeit der .Revolution und der 
ersten Kaiserzeit herrührten, so z. B. die gleiche Erbteilung, von 
vornherein für verfehlt ansah und ihr verderbliche soziale W irkungen 
zuschrieb, die sich auch anders erklären lassen. Er sah in der 
gleichen Erbteilung ein falsches Prinzip, das er durch ein anderes 
ersetzen wollte, und es genügte ihm deshalb nicht, im Rahmen des 
anerkannten Prinzips die bessernde Hand anzulegen. Aus seiner 
reformatorischen Absicht in Verbindung mit seiner rückwärts ge 
richteten Weltanschauung entstehen so Reformvorschläge, die man 
als „reaktionär“ bezeichnen kann, ohne damit einen Vorwurf aus 
zusprechen . 
Vernunft und Sittengesetz als oberster Maßstab für die 
Beurteilung sozialer Zustände. Wir sagten, daß die Welt 
anschauung Le Play’s, welche teils aus den Grundsätzen seiner 
Erziehung, teils aus eigener Beobachtung erwachsen war, für ihn 
den Charakter eines Dogmas erlangte und hierdurch die Objektivität 
seiner Erkenntnis beeinträchtigte. In diesem Zusammenhänge muß 
noch auf die Bedeutung hingewiesen werden, die Le Play für die 
„Vernunft“ und das „Sittengesetz“ in Anspruch nahm zur Be 
wertung sozialer Verhältnisse. Hier ist nochmals zu verweisen auf 
jenen schon zitierten Ausspruch: 
Als ich mir vornahm, die Sozialwissenschaft auf der Praxis der nach all 
gemeiner Ansicht am höchsten stehenden Völker aufzubauen, schloß ich mich 
nicht an die traurigen Doktrinen an, die die Gerechtigkeit dem Erfolg oder 
die Vernunft der Gewalt unterordnen. Ich verwarf im Gegenteil a priori jeden 
Schluß, der nicht mit den Vorschriften der Vernunft und des Sitten 
gesetzes übereinstimmte'). 
Aber diese Norm ist leichter aufgestellt als angewendet. Wer 
hat das Sittengesetz zu interpretieren? Wessen Vernunft ist berufen, 
J ) Ref. soc. I, 90.
	        
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