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zu erweitern und die Einflüsse seiner Erziehung abzustreifen, teils
durch erneute Beobachtung, teils durch verschärfte Kontrolle der
verdächtigen Schlüsse; doch ist ihm das nur unvollkommen ge
lungen.
Die reformatorische Absicht Le Play’s war ein wesent
liches Hindernis für die Objektivität seiner Erkenntnis. Sie ist ja
doch der Endzweck seiner Untersuchungen. Sie zeigt sich in dem
oft erwähnten Gelübde des Jahres 1830, in seinen Veröffentlichungen
und Gründungen, wie in seinen Gesetzes-Vorschlägen. Dabei war
von besonderer Bedeutung, daß Le Play bestimmte gesetzliche Ein
richtungen Frankreichs, die aus der Zeit der .Revolution und der
ersten Kaiserzeit herrührten, so z. B. die gleiche Erbteilung, von
vornherein für verfehlt ansah und ihr verderbliche soziale W irkungen
zuschrieb, die sich auch anders erklären lassen. Er sah in der
gleichen Erbteilung ein falsches Prinzip, das er durch ein anderes
ersetzen wollte, und es genügte ihm deshalb nicht, im Rahmen des
anerkannten Prinzips die bessernde Hand anzulegen. Aus seiner
reformatorischen Absicht in Verbindung mit seiner rückwärts ge
richteten Weltanschauung entstehen so Reformvorschläge, die man
als „reaktionär“ bezeichnen kann, ohne damit einen Vorwurf aus
zusprechen .
Vernunft und Sittengesetz als oberster Maßstab für die
Beurteilung sozialer Zustände. Wir sagten, daß die Welt
anschauung Le Play’s, welche teils aus den Grundsätzen seiner
Erziehung, teils aus eigener Beobachtung erwachsen war, für ihn
den Charakter eines Dogmas erlangte und hierdurch die Objektivität
seiner Erkenntnis beeinträchtigte. In diesem Zusammenhänge muß
noch auf die Bedeutung hingewiesen werden, die Le Play für die
„Vernunft“ und das „Sittengesetz“ in Anspruch nahm zur Be
wertung sozialer Verhältnisse. Hier ist nochmals zu verweisen auf
jenen schon zitierten Ausspruch:
Als ich mir vornahm, die Sozialwissenschaft auf der Praxis der nach all
gemeiner Ansicht am höchsten stehenden Völker aufzubauen, schloß ich mich
nicht an die traurigen Doktrinen an, die die Gerechtigkeit dem Erfolg oder
die Vernunft der Gewalt unterordnen. Ich verwarf im Gegenteil a priori jeden
Schluß, der nicht mit den Vorschriften der Vernunft und des Sitten
gesetzes übereinstimmte').
Aber diese Norm ist leichter aufgestellt als angewendet. Wer
hat das Sittengesetz zu interpretieren? Wessen Vernunft ist berufen,
J ) Ref. soc. I, 90.