Der moderne Imperialismus.
155
•eine Gleichmachung aller zum Reiche gehörigen Völkerschaften an
strebte; sie suchen den staatlichen Zusammenhang nicht auf den
gemeinsamen Ursprung zu begründen und ihn, wo solcher fehlt,
durch äußerliche Angleichung zu ersetzen; sie wollen ihn vielmehr
auf gemeinsame Zwecke aufbauen. Sie nehmen die Vielgestaltig
keit der Völker eines Reiches als unabweisbare Tatsache hin, die
schon deswegen nicht beklagenswert ist, weil sie eine Vielheit der
nationalen Begabungen in den Dienst der Reichszwecke stellt. Das
britische Weltreich hat es nicht zu beklagen gehabt, daß neben den
Engländern auch Schotten, Iren und Walliser ihre Eigenart bei
seinem Aufbau betätigen konnten; es hat keinen Grund, auf die Mit
arbeit des französischen Kanadiers und des holländischen Afrikanders
zu verzichten, weil ihr Wesen nicht englisch ist und nicht englisch
werden wird. Es ist kein Nationalstaat, sondern ein Völkerstaat,
— wie es mehr oder weniger jedes Reich werden muß, das sich über
seeische Besitzungen angliedert. In dieser Erkenntnis, — nicht in
der bloßen überseeischen Gebietserweiterung —, beruht die wahre
Bedeutung des modernen Imperialismus. Obwohl derselbe in vielen
Köpfen mit einer Auffassung zusammenfließt, die nur den einen
möglichst großen Teil des Weltraums erfüllenden Nationalstaat er
strebt, so beruht seine Eigenart eben darin, daß er sich über diese
rein nationalistischen Vorstellungskreise erhebt; er verfolgt eine
Politik, die die vielgestaltigen Kräfte verschiedener, in einem Reiche
vereinter Völker den gemeinsamen Reichszwecken dienstbar zu
machen sucht.