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Haben wir bisher die subjektive Krüppelpsychose kennengelernt,
in der er selbst das Aktivum bildet, so wollen wir uns jetzt mit einer
zweiten befassen, die zwar auch subjektiv und zwar höchst subjektiver
Art ist, bei der der Krüppel aber das Passsivum bildet, das Passivum
im wahren Sinne des Wortes. Hier ist er nämlich der leidende, weil
mißkannte und mißverstandene Teil. Es ist der Unversstand, das Miß-
trauen, das die da draußen in der Welt dem Krüppeltum im allge-
meinen und der gewerblichen Aus- und Durchbildung der Krüppel im
besondern entgegenzubringen pflegen. Alle, die in der Krüppel-
fürsorge stehen und die Erzeugnisse der Krüppelwerkstätten aus
eigener Anschauung kennen zu lernen Gelegenheit haben, wissen, welch
hochqualifizierte Arbeit oft ein Krüppel zu leisten vermag. Da diese
Kenntnis leider aber nur Gemeingut weniger ist, stoßen wir oft auf
solche Berge von Verkennungen und Vorurteilen, ja, von Mißtrauen
und Geringschätzung, daß man mit Engelszungen reden muß, um
wenigstens in etwa in diesen Wall eine Bresche zu schlagen und den
Schimmer einer besseren Beurteilung aufkommen zu lassen. Vieles
hat sich allerdings gebessert dank der Aufklärungsarbeit der in der
Krüppelfürsorge Tätigen, dank der Besichtigungen der Krüppelheime,
ja, so absurd es auch lautet, dank des Krieges, der, in seinen Wirkungen
sonst so negativ, hier ein positives Ergebnis zeitigen konnte, die groß-
zügige Kriegsbeschädigtenfürsorge ins Leben rief und dadurch manches
bislang abgewandte Auge mit Wohlwollen auf den Krüppel und seine
Arbeiten hinlentte.
Nichtsdestoweniger ist aber noch manches zu tun. Hier muß der
Hebel angesett und die Wolke des Mißtrauens zerstreut werden, da-
mit man dem jungen Krüppelgesellen in der richtigen Weise entgegen-
kommt, ihn nicht etwa nur aus Barmherzigkeit aufnimmt und dafür
gering entlohnen zu können glaubt, sondern nüchtern und objektiv
seine Leistungen betrachtet und ihn seinen ausgebildeten Kräften und
seinem Können entsprechend bezahlt. So sollte es sein, so ist es aber
in den wenigsten Fällen. Daher rührt es denn auch, daß so mancher
wohlgemut ausziehende jugendliche Geselle bald schon des vielen
Fragens und des vielen Abgewiesenwerdens überdrüssig, enttäuscht in
seinen hochgespannten Hoffnungen, gehemmt durch seine körperliche
Behinderung, zitternd vor der Arbeitslosigkeit ermattet den Mut
sinken läßt. Arbeit zu suchen, die befriedigt und lohnt, ist für manchen
Gesunden im Vollbesitz seiner Gliedmaßen und seiner Kräfte in der
heutigen Zeit der weitgehenden Arbeitslosigkeit und des allgemeinen
Abbaues schwer, ist ungleich schwerer für den körperlich Behinderten.
So kommt es, daß so mancher schon kurz nach der Anstalts-
entlassung still auf gerettetem Kahn in den Hafen des Krüppelheims
zurücktreibt, reicher um die Erfahrung, daß das Leben seinen eigenen
Lehrplan hat, nach dem es die Menschen leitet.
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