nalen Konferenzen bei, als man in den Jahren 1919 und 1920 über das
Schicksal der Türkei entschied, und versuchte, die größten Irrtümer zu ver-
hüten. Aber wie sollte man ankämpfen gegen die allgemeine Ansicht, daß
man nach Belieben mit dem Geschick der Besiegten schalten könne? Viele
ruchlose Handlungen wurden gegen die Türkei begangen. Man wollte sie aus
Europa hinausdrängen, den Sultan nach Brussa versetzen und ihnen die Ge-
biete Kleinasiens zu Gunsten Griechenlands und Armeniens wegnehmen.
Armenien wollte nicht nur einen Staat in angemessenen Grenzen, sondern
eine große armenische Republik mit Erzerum und Trapezunt besitzen.
Griechenland forderte die Rechte des Hellenismus, Smyrna und den besten
Teil Kleinasiens. Die Türken zogen sich nach Kleinasien zurück und fanden
dort in der Verzweiflung die Kraft zur Verteidigung wieder. Sie vernichteten
die Armenier und schlugen die Griechen. Nun aber boten die europäischen
Mächte, die Griechenland und Armenien gegen die Türkei gehetzt hatten,
die sie angestiftet und bewaffnet hatten, das elendste Schauspiel. Sie er-
kannten den Sieg der Türken an. Nachdem die Türken Konstantinopel, den
Sitz aller Intrigen von Finanzleuten und Diplomaten im Dienste der ersteren,
verlassen hatten, erlangten sie in ihrer armen Hauptstadt Angora ihre Un-
abhängigkeit; sie haben Europa moralisch. geschlagen. Die Türkei hat ihre
Freiheit und die Abschaffung des ruchlosen Systems der Kapitulationen er-
reicht. Weshalb sollten die Türken nicht auf diesem Wege fortschreiten?
Bedürfen sie wirklich des Rates von Moskau? Ist es nicht vielmehr lächerlich,
den wundervollen Widerstand und die politische Wiedergeburt der Türkei
dem Wirken der Sowjets zuzuschreiben? Und spricht man nicht auch heute,
wo die Türkei kein europäischer Staat mehr ist, in allem Ernst in verschie-
denen Staaten von dem Verlangen nach türkischen Gebieten Kleinasiens?
- Die gegen das bolschewistische Rußland befolgte Politik wies ebenfalls eine
solche Reihe von Irrtümern auf, daß Manches unglaubhaft scheinen wird,
wenn man die genaue Geschichte des Vorgehens der abendländischen Staaten
gegen Rußland in und nach dem Kriege schreiben wird. Im Gegensatz zur
Türkei war Rußland - nicht einmal ein Feind, sondern nur ein gefallener
Freund. Seine übergroße Anstrengung ließ es zusammenbrechen. Als Ruß-
land dem Bolschewismus verfiel, benutzten die früheren Verbündeten seine
schwierige Lage, um ihm die größten Leiden und Demütigungen zuzufügen.
War es der Haß gegen das kommunistische und revolutionäre Regime? Oder
war es einfach Gier nach neuen Gebieten? Oder war es beides zugleich?
Niemand hatte je gegen die Verbrechen des Zarismus Einspruch erhoben;
der mystische Schwächling hatte unter allgemeiner Duldung gegen die
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